Yenur

3705 1 0

Tage später schlugen sie ihr Lager etwas unterhalb der Quelle des Smaragdstroms auf. Sicher, der Strom entsprang irgendwo unterhalb von Lithrodil und den dräuenden Klippen des Vulkansees, die sich vierzig oder fünfzig Meter in die Luft erhoben, aber für alle, die keine Zwerge waren, war dies die Quelle des lebensspendenden Flusses.

Jorga graste glücklich. Nun, eigentlich graste er nur, der Kaltblüter war so dermaßen entspannt, dass man nie sagen konnte, ob er jetzt glücklich war oder nicht. Nur hungrig war eine der wenigen eindeutigen Gefühlsregungen des Pferds.

Ein paar Meter weiter, schräg rechts vor ihnen, bog sich eine Brücke über den Fluss. Sie war stabil, aus grauem Stein und so alt wie die Ruinen von Yenur selbst, vielleicht sogar noch älter. Sie würden diese Brücke erst am nächsten Tag überqueren, denn jetzt neigte sich der Tag dem Ende zu, die Sonne berührte den Horizont bereits, ging irgendwo hinter dem Finsterforst über unbekannten Meeren unter.

"Freust du dich auf Yenur?" Freyrín stellte eine Kerze in einem Glas neben ihn, damit er weiter in seine Aufzeichnungen schreiben konnte. Er trug gerade den Geschmack der Samen ein, die er erhalten hatte. Erinnerte an Lavender, war aber deutlich stärker und weitaus weniger sanft, was Geschmack und Aufdringlichkeit anging.

"Ja, solange wir nicht vertrieben werden.", murmelte Gavín, schaute die Kerze an und dann nachdenklich hoch. "War jetzt nicht auch dieses Fest der... Dings... hilf mir mal..."

"Lapira?"

"Ja, genau!" Gavín zeigte mit der Schreibfeder auf seine Mutter, die sich eine Gänsefeder ins Kleid gesteckt hatte, der Federkiel ragte über ihre Schulter hinaus.

"Dann meinst du das Lapra." Freyrín legte die Stirn in Falten. "Nein, das war immer im Herbst, soweit ich weiß. Nur die Archäologen vor Ort würden etwas gegen unsere Anwesenheit haben, denke ich."

"Gut, dann geraten wir nicht in etwas hinein." Gavín schaute wieder seine Aufzeichnungen an, beendete den Satz mit einer Frage nach der möglichen Anwendung neben Heilung und legte das Buch zur Seite, um die Tinte trocknen zu lassen, verschloss dann das Tintenfass und säuberte die Feder.

"Du meinst in ihr Fest? Ich glaube, sie würden uns aufsuchen, wenn wir sie stören würden."

"Ja, spätestens nach unserer Begegnung mit ihnen."

Freyrín kicherte. "Oh, sie war so süß!"

"Sie war ein gefährlicher Wolf und du hast sie gekrault!", rief Gavín beinahe verzweifelt aus. "Druidin hin oder her!"

"Sie sind Katzen, mein Herz."

"Und das macht es besser?", fragte er entgeistert.

"Ich fand es schön und sie beide wohl auch."

"Also, das werde ich wohl nie verstehen, wieso Tiere sich zu dir so hingezogen fühlen. Es ist fast, als hättest du eine Verbindung zu ihnen."

"Vielleicht.", schmunzelte Freyrín. "Aber ich zeige ihnen nur, wie gerne ich sie habe und dass sie nichts von mir zu befürchten haben."

"Ich verstehe das schon, aber die beiden haben mich angeschaut, als wollten sie mich zum Frühstück verspeisen."

Freyrín kicherte, setzte sich auf ihren ausklappbaren Hocker und begann an ihrer Eule zu schnitzen, die sie schon eine Weile in Bearbeitung hatte. Bisher war nur der Kopf fertig, aber dieser war wunderschön ausgearbeitet, glatt, strukturiert. Sogar die Federn hatte Freyrín ausgearbeitet und die runden Augen der Eule sahen aus, als würde sie den Beobachter gleich anblinzeln. Es sollte wohl ein Uhu werden, glaubte Gavín, aber das letzte Mal, als er versucht hatte zu erraten, was seine Mutter trieb, hatte er kilometerweit danebengelegen.

In der Nacht schlief er unter dem Wagen neben dem Feuer. Die Wolken über ihnen waren Gavín nicht geheuer. Wie eine Drohung, aber es regnete oder donnerte nicht in der Nacht, sodass er ruhig schlafen konnte.

Am nächsten Tag überquerten sie den Smaragdstrom, schöpften Wasser nach und gelangten gegen Mittag in die Ruinen von Yenur. Diese Stadt war zur Zeit des Engelsfalls gebaut worden von Menschen und bevor sie irgendwie ihre eigene Kultur errichten konnten, hatten sie Lanialellara assimiliert. Oder Lanialellara sie, das war nicht ganz sicher. Auf jeden Fall waren ihre Säulen, Türstürze, Türrahmen, Fenster und kleinen Tempel und Altäre an die Sechs gerichtet und auch an Lanialellara.

Kleine Statuen waren mitgenommen, untersucht und wieder aufgestellt worden. Die Tempel, Häuser und Hütten waren so belassen worden, wie man sie gefunden hatte, nur die Inneneinrichtung hatte man irgendwann wieder aufgestellt. Sie unterschied sich kaum von der heutigen Lebensweise, nur der Einfluss des Engels war hier deutlicher zu sehen als in Dorstein. Besteck aus Holz oder Metall hatte eine federartige Struktur, Kleider waren den Flügeln des Engels nachempfunden worden und viele Gegenstände wie Schüsseln, Kochtöpfe oder auch Feuerstellen oder Kamine ähnelten sehr den Drachenschuppen der Sechs.

Freyrín und Gavín durften sich nahe des Haupteingangs niederlassen, was bedeutete, sie lagerten direkt neben dem Haupttor. Es gab insgesamt drei Tore, eines direkt nach Süden, eines nach Norden und eines Richtung Fluss, also nach Westen.

Auch hatte es wohl mal Befestigungen gegeben, aber diese waren nur noch Staub, nur die Grundmauern waren noch zu sehen. Die Stadt schien auf einer Art Podest zu stehen, sie erhob sich wie ein Hügel Richtung Norden, wo sich auch die Mauern des Vulkansees in die Höhe streckten. Auf der höchsten Stufe, wenn man das so nennen konnte, befand sich das Haus des damaligen Herrschers, direkt angelehnt an den Tempel, der bis auf vier massive Säulen, ein Dach und den Altar nicht viel Schmuck aufwies, nicht einmal Bemalungen der Säulen. Es gab nur über dem Türsturz des Eingangs zwei Flügel, die wie eine Mischung aus den Drachenschuppen und den Federn des Engels ausschauten.

Gavín hatte es schon mehrfach gesehen, da sie immer wieder in Yenur lagerten, wenn sie nach Süden mussten, aber nun sah er es mit neuen Augen. Mittlerweile konnte er die Zeichen der Sechs identifizieren und war erstaunt darüber, dass er kein Zeichen von Lanialellara sah außer die Gegenstände, die wie eine Feder geformt waren.

"Wenn Yenur älter ist als die Kirche, dann kann es gut sein, dass es das Zeichen einfach nicht gab.", antwortete Freyrín auf die daraufhin gestellte Frage. "Möglich ist das. Sollen wir einen der Archäologen fragen?"

"Wenn wir einen finden, der gerade Zeit hat...", murmelte Gavín unsicher. Die Archäologen kamen ihm immer wie Menschen vor, die Großes im Kopf hatten und in anderen Sphären schwebten, also am besten einfach nicht gestört werden durften.

"Ach, sie werden schon Zeit haben.", winkte die Druidin ab. "Und danach schauen wir mal nach einer neuen Schreibfeder für dich. Vielleicht auch gegen eine kleine Dienstleistung." Sie zwinkerte ihm zu. "Traust du dich das?"

"Ich?" Er schnaubte. "Gegen Wehwehchen auf jeden Fall. Solange dem Kunden nicht die Gedärme aus dem Bauch hängen."

"Das ist mein Sohn!" Freyrín zog ihn mit nach Norden, wo sie die nächste Ausgrabungsstätte sehen konnten.

Diese war neu und ihnen noch nicht bekannt, lag ein wenig abseits des Tempels und schien eine Art Gewölbe freizulegen. Yenur war alt und vieles war noch nicht erkundet worden, mal ganz abgesehen davon, dass die Universität laut Sillana noch nicht viele Münzen dafür bekommen hatte, eine frei zugängliche Ruinenstadt zu untersuchen.

"Ah, Balthasar!" Freyrín winkte dem Mann zu, dessen Rolle wohl nur darin bestand, die Ausgrabungen zu beaufsichtigen und den Ruhm einzuheimsen. In seinen Händen hielt er ein großes Buch, in das er mit einer kleinen Feder hineinschrieb. Sein Gesicht war schmal, der Bart grau meliert, die braun-grauen Augen hinter zwei goldgeränderten Gläsern verborgen, die ihm wohl helfen sollten, besser zu sehen.

Der Mann steckte in feinem Stoff, ein Sonnenanzeiger steckte in seiner Brusttasche, war mit einer feinen goldenen Kette mit der Weste verbunden. Ein dunkelgrüner Lodenmantel hing über seinen Schultern, um gegen den immer noch kühlen Wind zu schützen.

"Freyrín.", grüßte er mit seiner tiefen Stimme, die Gavín an einen Onkel erinnerte, den er nie gehabt hatte. Seine Eltern hatten keine Geschwister, jedenfalls keine, von denen sie wussten. Balthasar streckte einen Arm aus und umarmte die kleinere Druidin. "Was führt dich in diese Stadt voller Geister und Geheimnisse?"

"Fragen.", erwiderte sie lächelnd, küsste ihn auf die Wange. "Fragen, die nach einer Antwort verlangen."

"Und da kommt ihr zu mir?" Die Augen hinter den Gläsern fixierten nun Gavín, ein breites Lächeln zerteilte den gepflegten Bart, es roch nach Minze von seinem selbst hergestellten Bartöl. "Eine Ehre. Der junge Gavín hat auch neue Errungenschaften, wie ich sehe. Vom Druiden zum Gläubigen?"

"Zum Archäologen.", sprang seine Mutter rasch bei, bevor er eine spitze Antwort geben konnte. "Er möchte an die Universität."

"Aber da gibt es doch mehr als nur die Archäologie.", warf der Mann erstaunt ein, klappte sein Buch zu. "Seid ihr euch da sicher?"

"Absolut.", warf nun Gavín ein und zeigte sein Amulett. "Dieses Zeichen gibt es hier nicht. Kannst du uns sagen, warum nicht?"

"Die Federähre?" Balthasar nickte nur. "Aber sicher. Sie ist noch recht jung und wurde als Zeichen für Lanialellara entwickelt, als Dorstein noch in den Kinderschuhen steckte und Lithrodil bereits untergegangen war. Yenur ist älter als der Untergang, aber nicht so alt wie Dorstein."

"Es gab das Symbol dann einfach nicht?"

"Nein. Du siehst hier vieles, was auf die Sechs und Lanialellara hindeutet, da die Menschen hier den Engel noch geschaut haben, bevor... nun, man sie in den Untergrund zwang."

"Hm..." Gavín strich über die Feder und schaute abrupt hoch. "Moment, was? Wie hat man sie denn in den Untergrund gezwungen? Hat man sie bedroht?"

"So ähnlich." Ein Ruf ließ Balthasar zur Seite schauen, ein Mann mit einer Spitzhacke in der Hand und zwei Pinseln an der Brust wedelte aufgeregt mit den Armen. "Ah, sie sind durch, scheint es mir. Wollt ihr hier kurz warten und wir treffen uns gleich wieder zu Tee und Geschichte?"

"Ich liebe Geschichte.", sang Freyrín beinahe, der alte Mann lachte aus tiefster Kehle und folgte dem Ruf aus dem Gewölbe, aus dem nun Staub aufstieg.

"Ich hatte ihn anders in Erinnerung." Gavín schaute dem Archäologen hinterher. "Oder wer war dieser unfreundliche Gelehrte mit der Hakennase?"

"Theo? Ah, speziell trifft hier sehr zu." Freyrín schaute sich um, hielt einen der emsig herumhuschenden Gehilfen auf. "Sag, das Zelt von Balthasar, wo finden wir das?"

"Links vom Tempel." Der Bursche deutete auf das riesige Gebäude und eilte weiter, Nägel und Hammer in der Hand, ein Seil über der Schulter. Freyrín kam nicht einmal dazu, ihm zu danken.

"Links vom Tempel ist einfach.", befand Gavín, schaute sich eine Bemalung über einem Türsturz an, aber bis auf etwas gelbe und blaue Farbe und unscharfe Konturen konnte er nichts erkennen.

Dafür fanden sie das Zelt recht schnell, es bestand aus weißer Baumwolle, trug seine Initialen und hatte ein kleines Feuer auf den Steinen aufgebaut, über dem ein Teekessel an einer Aufhängung schwebte.

"Das muss es sein..." Gavín lugte in das Zelt hinein und fand einen drahtigen Burschen, der - ebenfalls mit einer Brille, allerdings aus schwerem Metall - über verschiedenen Pergamenten brütete. "Hallo?"

Der Bursche schaute auf, blinzelte irritiert. "Selber hallo."

Gavín stutzte. Er hatte etwas anderes erwartet. "Ist das...das Zelt von Balthasar?"

"Wer will das wissen?"

"Ein paar durstige Druiden.", funkte Freyrín dazwischen, schlug die Eingangsplane etwas zurück. "Balthasar schickte uns hierhin, damit wir ihm wohl nicht im Weg stehen bei der Öffnung des Gewölbes."

"Ah. Ich bin Armandin.", stellte sich der Bursche vor, steckte den Kohlestift in seine Brusttasche und seufzte. "Nicht schon wieder." Zerstreut wirkend zog er den Kohlestift wieder aus der Tasche, schaute ihn nachdenklich an und legte das Schreibgerät dann neben die Pergamente.

"Hallo." Freyrín schenkte ihm ihr bestes Lächeln. "Dürfen wir uns am Teekessel bedienen? Tee haben wir zur Not selbst dabei."

"Nein, nein." Der Assistent winkte ab, deutete auf zwei schmale Boxen. "Da ist Tee drin. Ich bringe das Feuer in Gang, wenn es Euch nichts ausmacht, verehrte Druiden."

"Uns nicht.", ärgerte Gavín ihn, trat beiseite und somit ins Zelt hinein. Freyrín setzte sich auf einen Hocker mit Fell darauf, schaute sich um. Das Zelt war groß und schien mit Magie präpariert worden zu sein, denn es erschien innen größer als von außen. Außerdem hatten die Zeltstangen dumpf schimmernde Runen eingesetzt, was Gavín in der Vermutung bestärkte. Dazu kam die ungewöhnliche Wärme ohne Feuer. Die Körperwärme des Assistenten hätte dies nicht bewirken können, selbst wenn er den ganzen Tag in dem Zelt gewesen wäre.

Was noch sehr dafür sprach: es gab zwei geräumige Schlafzimmer, die sich links vom Eingang öffneten, dazu eine Art Lager. Das Schlafzimmer von Balthasar war einfach an dem alten Sekretär und dem aufgehängten Anzug neben dem einfachen Bett zu erkennen. Armandin hatte nur ein Bett, eine Truhe und einen Schrank, schien sonst nichts zu besitzen. Jedenfalls nicht während der Ausgrabung, das mochte in der Universität anders sein.

"Eindeutig magisch.", befand Gavín, wandte sich dann seiner Mutter zu. "Was ist, wenn sie mich nicht nehmen? War die Aufnahmeprüfung nicht sehr schwierig?"

"Dann probierst du es entweder erneut oder du wirst ein Druide. Oder ein Schmiedegeselle." Sie grinste schief. "Oder ein Priester?"

"Nein, niemals!", rief Gavín empört aus. "Respekt vor den Priestern ja, aber ich würde mich niemals einfach so unterwerfen wollen, Engel hin oder her."

"Ich weiß.", schmunzelte seine Mutter, drehte sich zu den Boxen um, untersuchte die darin enthaltenen Teemischungen, nahm zwei große Hände voll heraus, verteilte sie auf zwei Becher, die sie im Regal daneben fand. Es roch fruchtig und etwas alt, eine interessante Art von Tee.

"Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Eisbeeren.", seufzte die Druidin, klatschte in die Hände. "Aber nur wünschen bringt uns nicht weiter. Der nächste Winter kommt und wir werden wieder Eisbeeren haben."

"Das Wasser ist gleich bereit.", unterbrach Armandin, als er wieder ins Zelt trat. "Hat Meister Balthasar gesagt, wie lange er abwesend sein wird?"

"Nein, er verschwand so schnell, dass wir nicht einmal nach dem Weg fragen konnten." Freyrín überschlug die Beine unter ihrem Kleid. "Wäre es unter Umständen möglich, gegen eine druidische Dienstleistung einen neuen Federkiel für meinen Sohn zu bekommen? Mit Feder am besten?"

"Wir haben zwar kein direktes Krankenzelt, aber Gehilfe Gerd berichtete von tauben Füßen, vielleicht könnt ihr ihm helfen."

"Wo finde ich diesen Gehilfen?" Gavín war sofort dabei, befühlte den Inhalt seiner Zutatentasche. Das klang nach Durchblutungsstörungen, also entweder zu eng geschnürte Schuhe, zu viel Bewegung im Matsch oder die Zuckerkrankheit. Hoffen wir auf eine der beiden ersten Möglichkeiten, die Zuckerkrankheit wäre ein dauerhafter Zustand.

Wie sich herausstellte, war Gerd ein muskulöser Mensch und hatte sich die Schuhe zu eng gebunden. Eine Massage und zwei starke Tees als Förderungsmittel später war die Taubheit aus den Gliedern nahezu verschwunden, was Gavín die Dankbarkeit von Gerd und einen neuen Federkiel mit silberner Feder einbrachte. Deutlich über dem Preis seiner Arbeit, aber er beschwerte sich nicht, offenbar waren Archäologen gut ausgestattet.

Freyrín hatte sich derweil mit Armandin angefreundet und stellte ihm Fragen zu den Aufzeichnungen auf dem Tisch. Es waren Querschnitte und Ansichten der Stadt von oben.

"Wir vermuten irgendeine Art von Muster.", sagte er gerade, als Gavín erstaunlich unbehelligt wieder das Zelt betrat. Normalerweise wurden Druiden am laufenden Band angefragt. Vielleicht sollte er sich auch Eicheln ins Haar flechten. Sein langes Haar würde es auf jeden Fall hergeben.

"Was für eine Art Muster?"

"Ein Muster halt. Wie gesagt, wir vermuten es. So, wie Yenur aufgebaut ist, hat es etwas von Sonnenstrahlen, aber das würde keinen Sinn ergeben, nur, wenn es sieben Strahlen wären. Es sind aber vierzehn."

"Vielleicht nur einfach so aufgeteilt?"

"Städtebauer machen nie einfach etwas einfach so.", brummte Balthasar plötzlich hinter ihnen, klopfte Gavín auf die Schulter. "Dorstein ist ein Kreis, auch, wenn man das so nicht auf den ersten Blick sieht. Yenur wird ähnlich sein. Aber du könntest recht damit haben, dass es sieben Bereiche sind, einfach nur durch die vierzehn Straßen abgetrennt. Falls es Straßen sind, es gibt auch Mauern entlang der Linien. Aber auch das ist noch fraglich."

"Meister." Armandin verneigte sich rasch. "Wie ist es Euch ergangen, hat das Gewölbe Erkenntnisse gebracht?"

"Noch nicht. Es scheint eine Art Vorratsraum für den Tempel zu sein, aber dieser ist zu weit weg und ist außerdem mit seltsamen Inschriften versehen, die wir noch nie gesehen haben." Balthasar ließ sich auf den einzigen Stuhl mit Armlehnen fallen, der bedenklich knarzte. "Ich sehe, ihr seid versorgt."

"Sind wir.", lächelte Freyrín ihn an. "Soll ich dir auch einen Tee bereiten?"

"Oh, das wäre entzückend. Bitte mit einem Teelöffel Honig, ja? Nur so warmes Wasser mit Geschmack ist irgendwie langweilig und förderte bisher nicht meine Konzentration."

Die Druidin lachte, erhob sich, nahm einen weiteren Becher und holte den Kessel von draußen in das Zelt, als er durchdringend anfing zu pfeifen. Sie goss das dampfende Wasser in die Becher und es zog fruchtig in seine Nase, als Gavín den Geruch wahrnahm. Angenehm und warm, seine Finger waren etwas kühl.

"Gerd ist versorgt, Meister." Armandin deutete auf Gavín. "Der junge Druide hat sich um ihn gekümmert."

"Ich hoffe, er lebt noch?", schmunzelte der alte Archäologe fragend. "Oder war es so schlimm, dass wir ihn wie ein altes Pferd unter die Erde bringen mussten?"

"Nein, nein." Gavín schüttelte den Kopf. "Er darf nur seine Stiefel nicht so eng schnüren, das ist alles. Aber falls das ein Verbrechen ist, könnte man noch einmal über eine Notschlachtung nachdenken."

Allgemeines Gelächter, aber Balthasar winkte ab. "Ich denke, das wird nicht nötig sein, Gerd ist ein Arbeitstier, wir brauchen ihn noch. - Wo waren wir vorhin stehengeblieben?"

"Warum Lanialellara in den Untergrund getrieben wurde.", half Freyrín aus, ließ sich auf den Hocker sinken und schien es genauso gemütlich zu empfinden wie in einem Lesesessel, wie es manche Adeligen in ihren Häusern hatten. Ja, auch Adlige nutzten manchmal die Dienste eines Druiden.

"Ah, ich erinnere mich..." Balthasar zückte eine gigantisch wirkende Meerschaumpfeife aus seiner Weste, entzündete sie aber noch nicht, sondern drehte sie nachdenklich in der Hand, bevor Armandin ihm eine Tabakmischung reichte, die süß, stark und rauchig roch.

"Ja, Lanialellara..." Mit einigen kräftigen Zügen und einem Zündholz entzündete er die Pfeife, welche sofort ihren angenehmen Rauch durch das Zelt schickte. "Ein Engel, wie wir alle wissen. Aus den Aufzeichnungen geht so manches hervor, auch ihr Leben, aber das Warum ihres Verschwindens ist einfach: Neid, Missgunst, Eifersucht."

"Wie das?" Gavín atmete den Pfeifenrauch ein und lächelte. Er war kein Raucher, aber er genoss die Düfte, die aus solchem Rauchwerk strömte.

"Bisher weiß niemand wieso, aber die bloße Anwesenheit des Engels schien Pflanzen und Tiere gesünder zu machen. Fruchtbarer, langlebiger. Auch die Menschen. Weniger Gebrechen, lange Lebenszeit, kaum Krankheiten. Milde Winter, angenehme Sommer, auch wenn es eigentlich nicht sein kann." Balthasar blies einen Rauchring aus, lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten. "Manche behaupten, dass auch Eisen und dergleichen häufiger vorkamen, aber das kann ich mir bei bestem Wissen nicht vorstellen. Eisen wächst ja nicht einfach so auf Bäumen, oder?"

"Nicht, dass ich wüsste...", antwortete Gavín langsam und war sich dessen nun auch nicht wirklich sicher; hätte ja sein können, dass es wortwörtlich Eisenbäume gegeben hätte.

"Eben. Aber das dachten die damaligen Herrscher um Lanialellara herum, also formten sie mit den Vier Fürsten ein Bündnis. Ob die Altvorderen daran beteiligt waren, lässt sich nicht sagen, aber dieses Bündnis marschierte mit Macht, Stahl und Magie auf Lithrodil zu. Wir finden immer noch Rüstungen und Waffen, auch nur teilweise. Die Belagerung dauerte nach unserer Rechnung fast zwanzig Jahre, bis sich Lanialellara dazu entschied, ihr gesamtes Reich in den Vulkan zu versenken, auf dem es gebaut war."

"Aber warum? Sie war doch ein Engel?"

"Was hätte es ihr gebracht?" Balthasar wartete mit einem warmen Lächeln, bis Gavín ratlos mit den Schultern zuckte. "Genau, gar nichts. Ihre Bevölkerung war reduziert und sich zu wehren hätte die Ausrottung der restlichen Völker nach sich gezogen. Ob das ihr Wunsch war, glaube ich nicht und daran glaubt auch keiner unserer Freunde, also der Gelehrten."

"Aber ihr wisst es nicht?"

"Nein, das kann nur Lanialellara uns sagen. Aber es würde zu ihrem Verhalten passen."

"Welches Verhalten wäre das?"

Balthasar räusperte sich, trank Tee und blies dann einen dichten Schwall Pfeifenrauch Richtung Zeltdecke. "Nun, die Bücher schreiben von einer gerechten, stolzen Frau, die es mochte, angebetet zu werden."

"Welche Frau mag das nicht?", kommentierte Freyrín leise, die Beine überschlagen, ihre geflochtenen Zöpfe schwankten beinahe andächtig hin und her.

"Ganz recht, welche Frau mag das nicht?" Balthasar verneigte sich im Sitzen vor ihr, was wie eine seltsame Verrenkung ausschaute. "Angeblich hatte sie einen eigenen Tempel, in dem sie sogar ihre Flügel aufbewahrte; wir haben tatsächlich Bilder davon gefunden. Sie sind in der Bücherei, bevor jemand fragt."

"Oh." Gavín schluckte die Frage hinunter. "Nun... ich möchte gerne mehr über sie und die Geschichte des Landes erfahren, deswegen möchte ich auch an die Universität. Würden sie mich aufnehmen?"

"Wenn du die Einstiegsprüfung bestehst.", nickte der Archäologe, legte seinen Sonnenanzeiger auf den Tisch. "Und die Aufnahmegebühr aufbringen kannst. Frage mich bitte nicht, wie hoch diese ist, ich bin nicht in der Aufnahmeordnung und meine Aufnahme ist...lange her."

"Dabei bist du doch noch so jung." Freyrín warf ihm einen Blick zu, der Balthasar abwinken ließ.

"Ach, du junger Hüpfer brauchst mir gar nichts erzählen. Was weißt du denn schon? Wirst von Tag zu Tag schöner und kommst mir so."

"Wie so?"

"Na, so halt." Balthasar schnaubte. "Nun, wie dem auch sei. Das ist der Grund, warum Lanialellara im Untergrund ist. Oder dorthin gezwungen wurde, man weiß nicht, ob sie noch dort unten ist."

"Aber könnte man nicht nach unten graben?"

"Wurde versucht. Das Vulkangestein müsste eigentlich bei genügend Kraft auseinanderspringen, aber das tut es nicht. Wir kommen nicht so tief, bevor uns das Magma erreicht." Der Mann hob eine Schulter, blies Rauch aus, der seinen Bart wackeln ließ und klopfte seine Pfeife in einen Aschenbecher aus Ton aus. "Wir haben es versucht, Gav, aber wirklich geschafft hat es bisher niemand. Nicht einmal die Zwerge, die wir angeheuert haben."

"Ihr habt Zwerge hier?", rief er freudig aus, aber Balthasar schüttelte den Kopf.

"Nein, das ist schon eine Weile her, sie sind mittlerweile abgezogen. Keine Dunkelzwerge, auch, wenn wir es ebenfalls mit ihnen versucht haben. Komische Leute, sehr komisch. - So, darf ich noch etwas für euch tun? Wir speisen gleich und würden uns dann zur Ruhe begeben.", klatschte der Mann in die Hände und erhob sich, was sowohl Freyrín als auch Armandin imitierten, nur Gavín brauchte noch einen Augenblick, bis er verstand, dass sie herausgeworfen wurden.

"Dürfen wir dich morgen wieder besuchen?" Freyrín umarmte den Archäologen, der sie mit großen Augen hinter der Brille anschaute.

"Aber liebste Freyrín, natürlich, ihr seid mir jederzeit herzlich willkommen. Ich führe euch auch gerne durch das Gewölbe, wenn wir es gesichert haben."

Das ließen sich Mutter und Sohn nicht zweimal sagen und sie kamen am nächsten Mittag mit Balthasar, der sie zur Ausgrabung führte. Überall hingen Seile, welche über Umlenkrollen die Säcke mit Erde und Geröll nach oben brachten. Im Inneren des Gewölbes war es erstaunlich kühl und ja, für Gavín sah es aus wie ein Lager. Aber irgendwie ging es hier leicht abwärts, als wäre der ganze Raum ein Stück geneigt, das spürte sogar er.

"Ja, du merkst es auch. Ich bin nicht betrunken." Balthasar hob eine Lampe hoch, obwohl es in dem hohen Raum genügend Licht gab. Die Gehilfen traten zur Seite, als er auf die andere Seite des Raumes ging. An der Decke und knapp darunter, wo eigentlich Stuck hätte hängen können, zogen sich unbekannte Malereien entlang, erstaunlich gut erhalten nach wer weiß wie vielen Jahrhunderten.

"Der Raum war fast hermetisch abgeschottet.", erklärte der Archäologe. "Es roch hier nicht gut drin, kann ich dir sagen. Die Luft hat sich seit Jahrhunderten nicht bewegt."

"Klingt...ungut." Gavín ließ es wie eine Frage klingen. "Was sagen die Malereien?"

"Das wissen wir nicht, die Sprache von Yenur ist ein sehr alter Dialekt, den wir bisher kaum entschlüsselt haben. Kaum haben wir ein Wort verstanden, kommt ein weiteres hinzu, welches die gleiche Wurzel hat, aber dann plötzlich etwas anderes bedeutet oder sogar die Bedeutung umdreht."

"Ich verstehe."

"Tust du?" Der Mann drehte sich neugierig um.

"Nein.", lächelte Gavín entschuldigend, Balthasar nickte verstehend, dann runzelte er die Stirn.

"Gerd!", rief er plötzlich. "Ich brauche hier ein Stemmeisen!"

"Ja, Meister!", tönte die laute Stimme des großen Mannes, Eisen klirrte über den Steinboden. Gerd war so groß wie Balthasar, dafür aber bestimmt dreimal so breit. Seine Muskeln schienen das Leinenhemd zerreißen zu wollen. "Wo?"

"Hier." Balthasar deutete auf eine Kontur, die Gavín für die Darstellung eines Herrschers gehalten hatte und nun sah, dass dort eine Art Scharnier existierte. Ein Türspalt?

"Ja." Gerd setzte an, hieb mit einem großen Hammer auf das flache Ende des Eisens, Balthasar drückte Freyrín und Gavín nach hinten. Funken sprühten von dem Stemmeisen, als er drei-, viermal zuschlug.

Plötzlich zischte etwas, Gerd hieb ein letztes Mal auf das Eisen, die versteckte Tür öffnete sich zischend, Staub und uralte Luft rauschten in das Gewölbe, bliesen Lampen aus, Männer hielten sich die Hemden vors Gesicht, begannen zu husten. Balthasar stellte sich schützend vor die beiden Druiden, fing das meiste des Staubs und der Luft ab.

"Vorsichtig mit den Fackeln!", rief er, als einige der Gehilfen bereits Öl hervorkramten. "Der Staub könnte sich entzünden!"

Das ist doch kein Mehl, wunderte sich Gavín, widersprach dem erfahrenen Archäologen aber nicht.

"Macht erst alles sauber und lasst den Staub sich setzen, bevor wir weitergehen." Balthasar löste sich von Freyrín und Gavín, ließ die Lampe aber bei ihnen stehen. Offenbar wollte er auch nicht spontan in Flammen aufgehen. Mit dem Ärmel öffnete er die Tür ein Stück weiter, dahinter schien es abwärts zu gehen, aber etwa einen Schritt in die Tür hinein war es bereits schwarz wie die Nacht.

"In Ordnung, geben wir dem Gewölbe ein paar Minuten." Er hob das Stemmeisen auf, gab es Gerd wieder. Sie traten nach draußen an die frische Luft, bekamen Wasser und etwas Brot gereicht, der Eintopf des Kochs war noch nicht fertig.

"Gab es da eine Treppe?" Freyrín flocht Gavín zwei lange Strähnen, nachdem er sie darum gebeten hatte. Nur stillsitzen war ihm nicht so willkommen, aber eine gute Übung für später.

"Ganz recht." Balthasar wischte sich den Staub so gut es ging von dem teuren Anzug, sein Lodenmantel war nun nicht mehr komplett dunkelgrün, sondern sah aus wie mit braunem Puderzucker bestäubt. "Nicht sehr breite Stufen, der Gang selbst ist eng, soweit ich es sehen konnte. Aber mehr dann gleich, Teuerste."

"Wir haben Zeit." Freyrín flocht Gavín eine ihrer Eicheln an das Ende eines Zopfes, der zweite Zopf blieb erst einmal unberührt. Er hätte es auch selbst machen können, aber er freute sich immer, wenn seine Mutter ihm die Haare machte, sie sah dabei immer so entspannt und glücklich aus. Und so konnte er etwas sitzen und trinken, ohne, dass ihm Gewölbe um die Ohren flogen. Bisher war ihm noch kein Gewölbe um die Ohren geflogen und er wollte, dass das so blieb.

Die Gehilfen schafften Seile heran, holten noch mehr Umlenkrollen, Hämmer, Nägel, Stemmeisen und Halterungen wurden herangeschafft, damit man die Seile als Führung nutzen konnte. Ein massiver Stein wurde als Anker genutzt, an dem die Seile befestigt wurden, damit man sich im Ernstfall an dem Seil festhalten konnte und sich nicht auf die Muskelkraft eines Menschen verlassen musste.

Gerd ging voran, seine Lampe leuchtete ihnen den Weg, dahinter folgten zwei Gehilfen, welche das Seil trugen und nach und nach an den Befestigungen anbrachten, welche sie in den Stein der Wände trieben. Erst dann kam Balthasar, dann Armandin und dann erst die beiden Druiden.

Freyrín murmelte eine Bitte an die Erde und die Wurzeln, welche Gavín nachsprach, aber keine Antwort spürte. Seine Mutter wohl schon, denn sie schien auf einmal etwas entspannter zu sein.

Die Treppenstufen waren wirklich sehr schmal, sie hielten sich an dem Seil fest, soweit es möglich war. Die Luft war nicht so trocken wie erwartet und Gavín vermutete - und hoffte darauf - dass sie einem unterirdischen See entgegengingen. Das wäre ein grandioser Anblick gewesen.

"Ich höre etwas.", rief Gerd von unten, seine Lampe ein kleiner Lichtpunkt voraus. "Wie Wasser und Maschinen."

"Was redest du da? Maschinen?" Balthasar schnaubte. "Beeilt euch, Yenur hatte keine Maschinen. Wir werden sehen, was wir da haben. Aber seid dabei auch vorsichtig, wir wollen nicht abstürzen!"

"Nein, Meister!"

Niemand beeilte sich, warum auch? Was immer dort unten war, lief nicht weg. Und wenn es laufen konnte, wollte man ihm nicht begegnen. Lange Zeit war das Schnaufen der Männer und das stetige Klirr-Klirr der Hämmer auf den Eisen, welche in die Wand getrieben wurden, das einzige Geräusch, welches in ihren Ohren lag, ansonsten war es beängstigend still.

"Keine Wurzeln.", murmelte Gavín irgendwann. "Waren über uns nicht Bäume?"

"Ja, sie dringen wohl nicht so tief.", antwortete Balthasar, wischte sich mit einem teuren Taschentuch über die schwitzende Stirn. Vermutlich war dem Mann einfach warm, denn je tiefer sie kamen, umso kühler wurde es.

Ohne Vorwarnung trat Gerd aus der Treppe auf eine Plattform hinaus und wäre beinahe gestürzt, wenn ihn die Männer hinter ihm nicht sofort weggezogen hätten.

"Danke.", murmelte er und fiel in das Oooh ein, das von Gavín, seiner Mutter und allen anderen ausging.

Die Treppe hatte sie auf eine Art Aussichtsplattform ausgespuckt, von der links an der schwarzen Wand eine weitere Treppe hinabführte, ebenfalls ohne Geländer. Direkt vor der Plattform - vielleicht auch Treppenabsatz? - stürzte es senkrecht nach unten ab und öffnete sich in eine gewaltige Höhle, die von grünen, blauen und roten Lichtern erhellt wurde, fast wie ein Sternenhimmel unter der Erde.

Riesige Säulen kamen von der Decke und endeten in Wasser, welches von innen heraus zu leuchten schien. Zahnräder und Tröge bewegten sich unter ihnen, verloren sich im Dunkel und verschwanden in den Mauern, welche dieses riesige Wasserfläche umgab. Die Zahnräder waren angebracht an den großen Säulen, verloren sich darin, andere waren auf dem Boden befestigt in schwarzen Blöcken aus Stein. Die Wassertröge schienen auch nur das zu tun: Wasser zu einem unbekannten Ziel zu transportieren.

"Vorsichtig, hier ist es rutschig.", warnte Gerd von vorne, hielt sein Licht nach oben. Gavín blieb auf dem großen Absatz stehen und ließ die Höhle auf sich wirken.

Sie war riesig und konnte mit Leichtigkeit die gesamte Stadt über ihnen in sich aufnehmen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn von oben Türme herabgewachsen wären, weil die Menschen dort oben nicht nach oben bauen wollten.

Doch was war das hier für ein Ort? Eine Wasserversorgung? Doch wozu? So viel Wasser benötigte man doch nicht, oder doch? Wie tief es wohl in die Höhle hineinging? Wie weit sie sich wohl ausdehnte?

"Na komm." Seine Mutter Freyrín berührte ihn am Arm und als er sie anschaute, schien sie im Glanz der Lichter zu leuchten. Ihre Augen glänzten, als sie den Blick schweifen ließ. "Spürst du es?"

"Etwas ist hier.", nickte Gavín. Es war nicht so, als würde er es spüren, als wenn jemand neben ihm stehen würde; es war eher wie ein Druck auf den Augen, wie eine Präsenz, die sie beobachtete.

"Was meint ihr?" Balthasar drehte sich zu ihnen um, sein grauer Bart bekam durch die Lichter eine seltsame Färbung. Seine Augen waren groß und neugierig, begierig darauf, endlich etwas zu entdecken, was mehr war als nur Stein und Staub.

"Etwas ist hier.", wiederholte Freyrín seine Worte etwas lauter. "Eine Präsenz. Kein Wesen, glaube ich, jedenfalls nicht mehr." Sie drehte sich etwas auf den Stufen, hielt sich an dem älteren Mann fest, während sie immer weiter hinabstiegen, die Treppen wanden sich von Absatz zu Absatz immer weiter in die Tiefe.

"Das musst du mir erklären, liebste Freyrín." Balthasar half ihr, indem er sich selbst am Seil festhielt. Mittlerweile hörte Gavín auch Wasser irgendwo tropfen, was darauf hindeutete, dass es womöglich Kalkformationen gab, die von oben herabwuchsen, diese Stalaktiten.

"Was immer hier unten war oder ist, hat etwas von seinem Wesen hiergelassen.", erklärte die Druidin geduldig. "Du kannst es nicht sehen, aber die Pflanzen und Wurzeln hier sind davon durchzogen, teilweise sprechen sie noch davon."

"Sprechen? Du hörst, was sie sagen?"

"Nein, das ist... nicht wie Worte. Auch keine Gefühle, eher... Schwingungen? Als wenn man in einen Raum hineinkommt und eine gewisse Stimmung spürt."

Gavín spürte nichts davon, aber er hatte auch nie die Verbindung zu der Welt gehabt wie seine Mutter. Sie war Druidin durch und durch, ihre Affinität so viel ausgeprägter, was auch ihr umtriebiges Wesen und auch ihre Liebe zur Welt deutlich machten. Außerdem konnte sie nie lange an einem Ort bleiben, was auch einer der Gründe war, warum sie und Vater getrennt lebten, aber doch irgendwie zusammen waren.

"Das verstehe ich, aber ist hier nun etwas, was uns gefährlich werden könnte?"

"In einer Höhle?" Freyrín schmunzelte. "Abgesehen von den tausenden Tonnen Erde und Gestein über unseren Köpfen? Nichts, was böse Absichten gegen uns hegen würde. Jedenfalls spüre ich im näheren Umkreis nichts davon, aber ich bin auch kein Maßstab dafür. Nimm mich nicht als Richtwert, ein wilder Wolf hat Hunger und keine bösen Absichten. Ihn würde ich auch nicht als feindlich wahrnehmen."

"Hm." Der Archäologe schien damit nicht zufrieden, aber konnte daran auch nicht viel ändern und er drang nicht mehr in Freyrín, dass sie ihm bessere Antworten gab, dafür respektierte er die Druidin einfach zu sehr.

Es dauerte noch gut eine halbe Stunde - nach Gavíns Zeitgefühl jedenfalls - bis sie den steinigen, leicht rutschigen Boden erreichten. Dieser war von einer dünnen Schicht bedeckt, die Gavín bei näherer Betrachtung als bläuliches Moos identifizierte. Vermutlich nicht giftig, aber zu prüfen war es nicht anhand einer einfachen Betrachtung.

"Nimmst du eine Probe?" Gavín nickte, holte eines der Röhrchen aus seiner Tasche heraus und schabte mit seinem Messer etwas von dem Moos ab, welches sich wie normales Moos anfühlte und verhielt, aber eben blau war. Vielleicht waren es Eisenablagerungen. Oder andere Mineralien.

"Ich nehme auch etwas vom Wasser.", gab er seiner Mutter Bescheid, nahm das zweite von vier Röhrchen aus Glas, kniete sich an das Ufer und ließ etwas von der erstaunlich klaren Flüssigkeit hineinlaufen.

"Kalt.", teilte er Balthasar und den anderen mit, das Klirren der Hämmer hatte nun aufgehört, als sie die letzten eisernen Befestigungen anbrachten. Ein wenig Seil hatten sie noch. Aber wer brachte schon in weiser Voraussicht so ein ungewöhnlich langes Seil mit?

"Gut, das war zu erwarten, wir sind hier ja tief unter der Erde." Balthasar bekam eine Lampe gereicht und nun konnte Gavín endlich Wurzeln sehen, die sich von oben durch die Decke bohrten und diese wie ein Spinnennetz bedeckten. Auch aus den Wänden kamen dunkelbraune oder schwarze Wurzeln, mal sehr filigran und mal so dick wie ein ganzer Menschenkörper breit war.

"Wir schlagen hier unser Lager auf!", befahl der Archäologe. "Erweiterte Operationsbasis. Ich will hier Kochgeschirr, Zelte, Holz und Seile. Und bringt mir mein Schreibzeug!"

 

 

Gavín saß am Rande des unterirdischen Sees, schaute über die kaum bewegte Oberfläche. Die Luft hier unten war kühl und erstaunlich frisch, vom Geruch der unterirdischen Mineralien geschwängert. Er vermutete irgendwo einen Durchbruch an die Oberfläche, eine Art Windkanal, welcher die Luft austauschte. Oder die Pflanzen sorgten dafür, was eine ebenso gute Erklärung war. Aber es war nicht an ihm, dies herauszufinden.

Noch nicht jedenfalls.

Hinter ihm waren bereits drei große Zelte aufgebaut worden, eine Feuerstelle gab es auch, aber noch gab es kein Holz. Ein kleines Laboratorium wurde gerade errichtet, wo Bodenproben, Flüssigkeiten und andere Dinge untersucht werden konnten.

Der junge Druide drehte die Phiole mit der Wasserprobe nachdenklich in der Hand. Darin schwamm nichts, nur das Wasser selbst. Keine Tierchen, keine Pflanzenmaterialien, nichts. Das musste nichts heißen, aber er hätte es interessant gefunden, wenn das Wasser geleuchtet hätte oder ähnlich leuchtende Pflanzen wie an der Decke und an den Säulen.

Neben dem Geräusch der vorgeschobenen Basis war nur noch das immerwährende Knirschen und Quietschen der Maschinerie zu hören, die stetig Wasser aus dem See holte und in die Wände brachte. Seine Augen konnten das Dunkel nicht so recht durchdringen; bis auf die Tröge, welche direkt aus dem See auftauchten und wieder in ihm verschwanden, konnte er kaum die Ketten ausmachen oder die Löcher, in denen die Wassertröge verschwanden.

Freyrín untersuchte die moosige Schicht auf dem Untergrund, ließ sich weder von Balthasar noch von Gavín davon abbringen. Sie hatte ihre eigene Methode und eigene Interessen. Die waren anders als die ihres Sohnes, welcher nun einen Entschluss fasste und nicht mehr am Ufer stehen wollte.

Er lief durch das Gewusel des im Begriff entstehenden Lagers, drückte seiner abwesend wirkenden Mutter die Phiole in die Hand und holte sich eine Lampe und eine zweite dicke Kerze, dazu Zündhölzchen. Diese waren zwar recht teuer, aber das meistgenutzte Instrument für ein spontanes Feuerchen. Oder eben für andere Lichtquellen. Aber zuverlässig war auch anders.

Gavín würde sie eh nur im Notfall nutzen. Sein Plan war, im Zweifel die zweite Kerze an der letzten Flamme der ersten Kerze zu entzünden.

Die Lampe erhoben, die zweite Kerze und die Zündhölzchen in seiner Tasche, ging der Druide an den Rändern des Sees entlang in Richtung der größer werdenden Höhle. Gerd und zwei der Assistenten hatten die nahe Umgebung erkundet, um nicht plötzlich in eine hungrige Überraschung zu stolpern, aber gefunden hatten sie nichts. Nicht einmal die Schalen von Krebstieren, die man eventuell in so einem dunklen See erwartet hätte.

Gavín hatte eher Algen, generell Unterwasserpflanzen, erwartet. Aber sowohl das Ufer als auch die ersten paar Meter Gestein unter der Oberfläche waren bar jeden Lebens. Der See konnte nicht komplett ohne Leben sein, denn die Säulen und die Decke schimmerten ja, was auf biolumineszierende Pilze hinwies. Oder andere, kleine Pflanzen, die sich von Mineralien ernährten und ihre eigene Umgebung ausleuchteten.

Das Ufer machte einen Schlenker und gerade, als Gavín ihm folgen wollte, schwappte Wasser um seine Schuhe. Nicht besonders ungewöhnlich, aber in einer Höhle mit einem See, welcher sich nicht bewegte, alarmierte es Gavín genug, dass er einen Satz zur Seite machte, weiter vom See weg.

Keine schlechte Idee. Die Oberfläche des Sees war unruhig, seichte Wellen bewegten sich von einer der Säulen aus, ein paar Meter davon entfernt. Grünblaue Lichter schimmerten im Dunkel des Wassers, dann verschwanden sie für einen Herzschlag und er erkannte: das waren Augen.

In dem See lebte etwas!

Rasch lief er zurück, berichtete Balthasar und seiner Mutter davon. Seine Mutter nickte nur, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass einen Augen aus einem See heraus anschauten, aber der Archäologe war skeptisch.

"Sicher?", fragte er nach, seine Augen linsten über den Rand der goldenen Brille hinweg. "Sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast? Manchmal kann einem die Tiefe oder die Angst Sachen sehen lassen und die Sinne verwirren."

"Nein." Gavín schüttelte energisch den Kopf. "Das Wasser schwappte um meine Füße, daher habe ich es gesehen. Ich bin auch nicht ausgerutscht und verrückt bin ich auch nicht."

"Das behauptet niemand.", lächelte Freyrín. "Wenn du sagst, dass da in dem See etwas lebt, dann wird das so sein. Vielleicht ist es auch diese Anwesenheit, die ich spüre."

"Eine Warnung?" Balthasar schaute nun Freyrín an. "Sprechen deine Pflanzen davon?"

"Nicht meine Pflanzen, guter Freund, und ich weiß es nicht." Sie warf ihre beiden geflochtenen Zöpfe nach hinten, welche leise raschelten und klimperten aufgrund der ganzen Kleinode, die darin enthalten und daran angebracht worden waren. "Wie gesagt, ich spüre es nur."

"Nun denn." Balthasar klatschte in die Hände und schlug dann einen Topf dreimal mit einem großen Löffel, dass es klirrte. Nahezu jeder hörte rasch auf zu arbeiten, nur ein Assistent schlug noch eine Eisenstange in den Boden. "Alle mal herhören. Geht nicht in die Nähe des Sees, an oder in seine Wasser. Wir haben die Vermutung, dass dort etwas lebt, was uns nicht freundlich gesonnen ist."

Balthasar brauchte seine Stimme gar nicht zu erheben, sie trug ohnehin schon weit genug. "Auf jeden Fall möchte ich niemanden von euch verlieren, weil wir es plötzlich mit einer menschenfressenden Riesenschlange oder einem sehr hungrigen Jurgol zu tun bekommen."

Ein Jurgol war ein Fisch mit zwei Augenpaaren und vielen spitzen, nach innen liegenden Zähnen. Gavín hatte mal einen jungen Jurgol gesehen und der Anblick hatte völlig ausgereicht.

Nun hielt er sich etwas abseits vom See, etwa drei große Schritte. Er ließ das Lager hinter sich, folgte wieder dem Ufer und um die Biegung herum, die er eben schon gesehen hatte. Er war froh darum, dass die Erwachsenen ihn ernstgenommen hatten. Er hatte es auch schon anders erlebt und als sich seine Worte als wahr herausgestellt hatten, kam auch keine Entschuldigung. Warum sich auch bei einem dummen Kind entschuldigen?

Ob Balthasar seine Meinung respektierte oder ihm nur wegen seiner Mutter zugehört hatte, interessierte Gavín freilich weniger. Auch bemerkte er erst nach einigen Augenblicken, dass ihn niemand beachtete. Selbst seine Mutter nicht. War es, weil hier nichts eine feindliche Absicht hegte oder vertraute sie ihm genug?

"Ach, was auch immer...", murmelte Gavín, hob die Lampe etwas höher. Das Wasser spiegelte den Schein wider und reflektierte das Licht an die Säulen. Nun sah der Druide auch, dass es wirklich Pflanzen und Pilze waren, welche die glitzernden Lichter darstellten. Wunderhübsch. Vielleicht eine Möglichkeit, ihren Wagen zu verschönern.

Bis nach oben zur Decke reichte das Licht allerdings nicht, das stetige Quietschen und Rumpeln der Maschinerie begleitete ihn bei jedem Schritt. Die Ketten und Tröge gingen nach drei Richtungen, soweit er es aktuell beurteilen konnte, aber einen tieferen Sinn konnte er nicht erkennen. Offenbar Balthasar auch nicht, was Gavín darin bestärkte, dass er doch nicht so dumm war.

"Hm?" Erst jetzt registrierte er, dass zwischen dem ganzen Blau, Grün, Rot und Weiß der Pflanzen und Pilze dichte, schwarze Schatten lungerten, die sich nicht bewegten. Es war wie Schatten in den Schatten.

Mit den Augen versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen und bemerkte, dass der See in einigen Dutzend Schritten einen Knick machte und sich ein Bauwerk vom Ufer aus über den See erhob. War das eine Brücke? Es war nicht so dunkel, dass man es nicht sehen konnte, aber dunkel genug, dass Details - oder grundsätzlich eine Form - schwierig auszumachen war.

"Ist das... hm. Wer baut hier eine Brücke?" Er schaute sich um, zuckte mit den Schultern und folgte dem Ufer, bis er einen Weg bemerkte, der hier wie eine Schlange mit breiten Steinen sich am See entlang wand, aus der Dunkelheit rechts von ihm kam und auf die Brücke zuhielt. "Gut, wer baut hier Wassertröge, die gefühlt nirgendwohin führen?"

Nur das Rasseln und Quietschen der Ketten und riesigen Zahnräder antwortete ihm. Gavín seufzte und hielt weiter auf die Brücke zu. Balthasar und Freyín würden wissen, wohin er gegangen war und die Brücke zu finden dürfte für beide kein Problem sein.

Die Brücke war alt, die Pfeiler und das Geländer aber sehr erhalten. Selbst für den unerfahrenen Gavín war es merkwürdig, dass beides aussah wie gerade erst gebaut. Sobald er etwas sah, was ihm ungewöhnlich, lebendig oder ungewöhnlich lebendig vorkam, würde er auf der Stelle umdrehen. Sollten sich die erfahrenen Erwachsenen damit auseinandersetzen.

"Hm.", machte er wieder, berührte den kalten Stein des Pfeilers, schaute die leicht gewölbte Brücke an, seufzte und machte sich langsam an die Überquerung. Der Stein war ungewöhnlich glatt und erschien ihm irgendwie... härter als der Uferstein des Sees. Sowohl Geländer als auch Handlauf waren mit kunstvollen Verzierungen versehen, aber die Brücke selbst war schmucklos; Runen gab es auch keine, welche das seltsame Gefühl hervorrufen könnten, welches Gavín gerade verspürte. Jedenfalls keine, die er sehen konnte oder als solche erkennen würde.

Über dem See hatte sich, je weiter er sich der Brückenmitte näherte, ein feiner weißer Nebel gebildet, der wie ein Leichentuch über der dunklen Oberfläche hing. Der junge Druide hielt die Lampe etwas höher und konnte auf den Grund sehen, der allerdings seltsam rau und ungeschliffen aussah, aber immer noch bar jeden Lebens war. Die Augen, die er vorhin gesehen hatte, waren auch nicht wieder aufgetaucht.

Gavín richtete den Blick wieder nach vorne, die Lampe erhoben, als er hinter sich seinen Namen hörte. Er drehte sich wieder in Richtung Lager, vier Lichter wackelten am Ufer entlang, allen voran getragen von Freyrín und Balthasar, direkt hinter ihnen Gerd und zwei weitere Assistenten.

"Was verschwindest du denn einfach?" Freyrín erreichte ihn als erstes, ihr warmes Gesicht sorgenvoll zerfurcht. 

"Ihr wusstet doch, wo ich war.", brachte Gavín irritiert heraus. "Du weißt doch auch immer, wo ich bin."

"Ja, aber das ist doch unbekannte Gegend."

"Und?"

"Schluss damit.", grummelte Balthasar, rückte seine goldumrandete Brille zurecht, sein Blick wanderte über die Brücke und zum anderen Ufer, welches immer noch im Zwielicht verborgen war, eine Struktur schien sich dort zu verbergen. "Mir scheint, der junge Gavín hat da etwas gefunden."

"Mein Sohn?"

"Aber natürlich? Die Brücke und was auch immer sich dahinter verbirgt. Ich habe den Eingang gefunden, er den Rest." Der Archäologe beugte sich etwas herab, blinzelte Gavín über die Ränder seiner Brille an. "Oder? Ist doch so, nicht wahr? Käme dir doch sehr gelegen?"

"Äh...ja, natürlich.", spuckte Gavín überrascht aus. Balthasar zwinkerte ihm zu, Gavín war sich nicht sicher, was er daraus ableiten wollte. Es klang so, als hätte der alte Mann Gavín zugestanden, dass er den See, die Brücke und die Gebäude, die sich im Zwielicht versteckten, gefunden hatte. Was auch immer das bedeuten mochte.

"Dann sind wir uns ja einig. - Gerd, du führst."

"Ja, Meister."

Der massige Gehilfe hob die Lampe empor, ein paar Seile um die Hüfte geschlungen, sein langes Messer griffbereit am Gürtel. Hinter ihm folgte Balthasar mit Freyrín und Gavín, die Brücke war breit genug, sodass auch drei normale Kutschen nebeneinander herfahren konnten. Im Licht der Lampen war klar zu sehen, dass die Brücke aus nahezu weißem Stein bestand, aber Gavín konnte immer noch nicht erkennen, warum ihm die Brücke so merkwürdig stabil vorkam. Er teilte diese Gedanken seiner Mutter mit, welche ihn nur ratlos anschaute. Sie hatte dieses Gefühl nicht und Gavín sagte dazu nichts mehr.

Als sie das andere Ufer bereits sehen konnten, schälte sich auch aus dem Zwielicht der Moose, Pilze und Pflanzen ein Gebäude heraus. Es war halbrund, die Öffnung in ihre Richtung beziehungsweise zur Brücke ausgerichtet. Am Boden des halbrunden Gebäudes war eine Plattform aufgebaut worden und darauf lag etwas Großes, Dunkles.

"Lampen!" Balthasar hob seine Lampe an, zwei weitere wurden entzündet und rissen, als sie näherkamen, den weißen Stein aus dem Zwielicht. Auch hier war der Stein makellos weiß, keine Rissen, nur wenige Fugen, keine Pflanzen, Moos oder Pilze.

"Bei den Sechs...", flüsterte Gerd, das Licht seiner Lampe zeichnete den Grund der Plattform nach und holte Stück für Stück das, was auf der Plattform lag, in ebenjenes Licht.

"Bei allem, was den Sechs und Lanialellara heilig war.", murmelte auch Balthasar, als er sogar noch näher trat, an Gavín und Freyrín vorbei auf die Plattform.

"Ist er tot?" Gavín folgte dem Archäologen bedächtig.

"Ja.", murmelte seine Mutter und er hörte die bodenlose Traurigkeit in ihrer Stimme bei dem Anblick, der sich ihnen bot.

Vor ihnen auf der Plattform, die sich aus riesigen Quadern zusammensetzte, lag der hausgroße Körper eines roten Drachen. Die roten Schuppen leuchteten wie Rubine im Licht, reflektierten ebenjenes und warfen rote Sterne auf die Tribünen, die sich im Inneren des halbrunden Gebäudes entlangzogen und über die Schatten wanderten.

Gavín stockte, als er den toten Leib sah. Der Drache war riesig gewesen, die schuppigen Beine angezogen, der lange Hals gekrümmt und wie eine Schlange eingerollt, der Kopf ruhte seitlich am Körper. Die langen, gedrehten Hörner wirkten wie seltsam deplatzierte Waffen an der sonst so eleganten Kreatur. Die breiten Schwingen waren angezogen, lagen ebenfalls am Körper, aber der Tod hatte die Muskeln weich werden lassen, sodass sie nun wie eine faltige Decke über dem Hinterleib lagen.

"Wahnsinn..." Gavín trat näher an den Körper heran, wurde aber von Balthasar an der Schulter festgehalten.

"Nicht." Er schüttelte den Kopf. "Wir wissen nicht, was hier sonst noch ist. Der Boden könnte auch sehr instabil sein."

"Dann wäre der Drache aber schon eingestürzt." Gavín nickte aber. "Nun gut, ich warte."

Das tat er dann doch nicht. Während Balthasar und die Gehilfen sich mit dem Drachen beschäftigten, schaute er sich auf den Tribünen um. Weit brauchte er dafür nicht zu gehen, nur ein Stück um das massige Hinterteil des Drachen herum. Gavín schluckte und eilte zurück, direkt zu Balthasar, zupfte ihm am Ärmel.

"Ja, junger Gavín?" Der größere Mann beugte sich hinab, sein Anzug knisterte dabei leise.

"Die Bewohner.", nuschelte er dem Mann ins Ohr. "Ich habe sie gefunden."

"Welche Bewohner?", fragte er irritiert.

"Von Yenur."

"Wirklich?" Die ansonsten glatte Stirn des Mannes zog sich in krause Falten. "Bist du dir sicher? Wo?"

"Auf den Tribünen. Leuchtet dorthin." Gavín löste sich von Balthasar, ging zu seiner Mutter und blieb bei ihr in der Nähe. Was er gesehen hatte, fand er nicht schön und war ihm auch irgendwie unheimlich. Es ging ihm, ehrlich gesagt, durch Mark und Bein.

"Was ist los?" Freyrín nahm ihn bei der Hand, legte ihm auch einen Arm um den Hals. "Was hast du gesehen?"

"Schau hin.", sprach er nur und sie schaute auf die Tribünen, wo die Assistenten nun Licht hinbrachten. Er hörte sie einatmen und wusste, sie hatte es nun auch gesehen.

Leichen. Sitzende Leichen, die Hände im Gebet gefaltet, seltsam darin erstarrt, saßen nebeneinander auf den Rängen, die leeren Augenhöhlen auf das Podium gerichtet, wo der Drache lag, ebenfalls so tot wie sie. Ihre Kleidung hing in verfaulenden Fetzen an ihnen herab, war einstmals wohl farbenfroh gewesen, aber nun nicht mehr. Die Luft hatte die Menschen vermodern lassen, sie waren fast nur noch Hautreste und Skelette, die irgendwie aufrecht erhalten wurden.

Einzelpersonen, Familien, kleine Kinder, offenbar auch alte Leute, waren im Gebet verstorben und saßen nun hier für alle Zeit. Vermutlich, wenn die Archäologen sie ließen.

"Ich will hier weg.", murmelte Gavín in den Arm seiner Mutter. "Das ist mir zu viel Tod."

"Ja." Freyrín nickte beklommen, winkte Balthasar und führte Gavín zurück zum vorgeschobenen Basislager am Fuße der Serpentinentreppe, wo sie ihm dünnen Tee kochte und etwas Brot reichte, damit er etwas zu tun hatte, um nicht allzu sehr über die hunderte von Toten nachzudenken, die völlig regungslos auf einen ebenso toten Drachen starrten.

"Wie ist er nach unten gekommen?", fragte Gavín nach einer Weile unvermittelt, hob den Kopf von dem kaum noch dampfenden Tee.

"Der Drache?" Freyrín schaute von der Wasserprobe auf, die er mitgebracht hatte, welche sie gerade untersuchte.

"Ja, es scheint hier kein Loch zu geben und auch keine Tunnel. Die Treppe wird er sicherlich nicht genommen haben."

"Wohl nicht." Sie hob eine Schulter. "Ich weiß es nicht. Das können uns eventuell die Archäologen sagen, wenn sie mit der Untersuchung fertig sind." Sie schüttelte das Röhrchen und seufzte. "Deine Probe ist reines Wasser. Ja, mit einem sehr hohen Gehalt an Mineralien, aber an und für sich reines, klares Wasser."

"Immerhin etwas." Er lachte leise, streckte die Beine aus und stand auf. "Ich glaube, es geht mir wieder gut. Diese ganzen toten Menschen waren dann doch etwas überraschend."

"Geht es dir wirklich gut?", fragte seine Mutter besorgt, markierte die Phiole mit einem Kohlestift und legte sie weg. "So ein Anblick kann einen ganz schön durcheinanderbringen und du bist noch nicht so erfahren wie ich."

"Doch, Mutter." Gavín lächelte sie an. "Mir geht es gut. Ich will jetzt nur noch mehr ein Archäologe werden, um so etwas zu finden."

"Tote Drachen?", fragte sie zurückhaltend.

"Nein, Mutter: Geschichte."

Please Login in order to comment!