38. Hekaphaurus 6542 der Vierten Ära nach der Landung in Lethalia (NL)
Kurz nach Sonnenuntergang
Kiara
Die Brutkammer des Adels war nicht kompliziert zu erreichen, aber der Weg führte zu den Waschräumen und den Küchen, die nur dem Adel vorbehalten waren. Das war zwar Pech für den Adel, aber irgendetwas war ja immer.
Viele adlige Vampire wollten die Annehmlichkeiten ihres Status und ihres Geldes, aber interessierten sich wenig für das Woher, geschweige denn für diejenigen, die es erzeugten oder zubereiteten, oder auch nur den Ort.
Doch wenn sie zur Brutkammer ihrer Nachkommen wollten - was bei den weiblichen Vampiren selten der Fall war, wenn sie nach der Niederkunft nicht sofort geheilt wurden - mussten sie zu den Waschräumen und den Küchen, denn dort war die Brutkammer mit den achtzehn Brutfächern angelegt worden. Nicht, um den Adel zu ärgern - na gut, vielleicht ein bisschen -, sondern auch, um die sowieso entstehende Hitze bei den Waschräumen und den Küchen zu nutzen, welche die Steinwände ohnehin aufheizte. Zusätzlich war in jede der Küchen ein großer Kupferofen eingebaut worden, der Tag und Nacht befeuert wurde. Kupferrohre leiteten die Hitze durch den Stein in die Brutkammer weiter, sodass es dort immer heiß genug war, um die Eier auszubrüten. Es hatte manchmal etwas von einem Dampfbad, wenn viele Vampire - mehr als drei - in einer Nacht in die Kammer wollten.
Aktuell waren von den achtzehn Fächern sieben Stück belegt, eines davon gehörte dem zukünftigen Kind von Serelle Abbaturi. Kupferplaketten mit den Clan-Namen markierten, zu welchem Clan welches Ei gehörte. Ein Name, zu welchem Paar besagtes Ei gehörte, war aus konfliktvermeidenden Gründen damals abgelehnt worden.
Als Kiara in ihrer Sklaventracht den Raum betrat, schoss ihr direkt der Schweiß auf die Stirn. Einer der rar gesäten Blutgelehrten untersuchte gerade eines der anderen Eier, prüfte die Schale auf Risse oder andere Ungereimtheiten. Sein Oberkörper war nackt und seine Muskeln glänzten wie eingeölt.
"Willkommen.", brummte er nach einem Blick auf Kiara. "Hat sich die Dame Serelle nach dem Befinden ihres Kindes erkundigt?"
"Nein, noch nicht." Kiara trat an das Fach heran, welches durch das Ei ihrer Herrin beherbergte. "Daher möchte ich mich bereits erkundigen und nach dem Ei sehen, für den Fall, dass sich die Herrin anders besinnt. Momentan macht ihr die Hüfte noch mehr Probleme als erwartet und ihre Pilgerreise steht bevor."
"Hm.", machte der Blutgelehrte, Kiara konnte nicht herausfinden, ob neutral, geringschätzig oder anders wertend. "Die Herrin wird wissen, was sie tut."
Das hoffe ich auch, dachte Kiara bei sich und richtete nun endlich den Blick auf das Ei, welches bis vor wenigen Wochen im Leib ihrer Herrin wohlig warm umfangen war und vor sich hingeschlummert hatte. Nun war es unter Schmerzen, Blut und kaum zu wiederholenden Flüchen seitens Serelle in die Welt gepresst worden, denn Yolene hatte verfügt, dass Serelle ihr Kind auf natürlichem Wege bekam, ohne die Hilfe eines Messers oder eines Heilers oder beidem. Daran wäre sie auch beinahe gestorben, ein Umstand, der Kiara immer noch unruhige Nächte bescherte.
Doch nun hing das Ei in einer Halterung aus sechs Eisenstäben. Diese Stäbe kamen aus den Wänden, waren gefedert und die Füßchen waren mit dickem Leder umhüllt, damit das Eisen nicht die Eierschale zerkratzte oder sogar zerbrach, sobald sich das Ei bewegen würde. Was unweigerlich der Fall sein wird, daher wurde es auch von unten gestützt, um nicht herabzufallen.
Orange gefärbte Kristalle in den Ecken des jeweiligen Fachs spendeten diffuses, sonnenuntergangähnliches Licht und machten die Schale der Eier transparent genug, sodass das ungeschlüpfte Leben - und manchmal der noch mit Blut und Nährstoffen gefüllte Dotter - durch die kalkhaltige Außenhülle zu sehen war.
So auch in diesem Fall. Ein humanoides Wesen schwebte, von Flüssigkeit umgeben, in der weißlich marmorierten Kalkhülle, die Nabelschnur zum sehr prominente Dotter nur als undeutlicher Schatten zu sehen. Manchmal zuckte das Wesen, als würde es träumen.
Schweiß rann Kiara bereits über den Rücken und die Beine, als der Blutgelehrte wieder "Willkommen" murmelte und ihr Puls beschleunigte sich, als Nerth die Brutkammer betrat, wie immer sein schmieriges Lächeln auf den Lippen und gekleidet, als gehöre er zum Adel und würde dem niederen Volk einen Gefallen mit seiner Anwesenheit bescheren.
Mit Schrecken fiel Kiara auf, dass sie ihren schlanken Dolch vergessen hatte!
"Was willst du hier?", fragte sie dennoch und verschränkte die Arme vor der Brust, was an und für sich eine eher nicht so schlaue Idee war, denn nun klebte ihr das lange Untergewand an den Brüsten und stellenweise am Bauch. Gut, dass Nerth nicht durch ihre Kleidung schauen konnte. Eine Dusche war hiernach dringend notwendig.
"Ich?" Der niedere Vampir eines Fondané des achten Ranges tat überrascht, schaute sich um, da aber der Blutgelehrte dabei war, konnte und wollte Nerth nicht mehr machen als reden. Zum Glück für Kiara.
"Ja, du."
"Ich wollte nur nach dem Kind meiner Herrin sehen, ob es denn wohlauf ist, bevor sie zu ihrer Pilgerreise aufbricht, damit meine Herrin ihren hochwohlgeborenen Kopf von unnötigen Sorgen fernhalten kann." Wieder dieses schmierige Lächeln und Kiara fiel auf, dass er immer nur "meine" Herrin sagte. Es jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken, obwohl es in der Kammer wortwörtlich brütend heiß war.
"Das mache ich bereits, wie du siehst." Sie hob das Kinn etwas. Fehlender Dolch hin oder her, wenn er irgendetwas versuchen würde, ihr, dem Kind oder Serelle etwas anzutun, würde sie ihm das Herz herausreißen. "Deine Anwesenheit ist hier nicht vonnöten. Geh wieder, ich habe alles im Griff, meine Herrin Serelle ist bei mir in guten Händen."
"Aber nicht in den besten.", säuselte Nerth, sein weißes Hemd unter der schwarzen Weste klebte ihm komischerweise nicht an der Haut. Das machte ihn direkt noch unausstehlicher, wie konnte er hier nicht schwitzen?
"Möglich, aber in meinen und ich kümmere mich gut."
"Hach, bilde dir das nur weiter ein." Nerth trat näher und so gerne Kiara körperliche Nähe hatte, sofort ekelte sie sich vor ihm wie vor einem schmierigen, giftigen Frosch. Er hatte sich wieder mit Rosenwasser eingenebelt, was bei der Vampirfrau für einen Würgereiz sorgte. "Meine Herrin Serelle braucht nur einen Vertrauten und keine Amme, die nur darauf wartet, ein Kötzerchen wegzuwischen."
"Oh?" Kiara war bereit, ihre Fingernägel und Zähne in seinen Hals zu jagen. "In dem Punkt stimmen wir überein. Meine Herrin Serelle braucht einen Vertrauten, der sich waschen kann, damit der Vertraute nicht in Rosenwasser baden und immer vorsichtig um sie herum scharwenzeln muss."
Dabei wedelte sie mit der Hand vor ihrer Nase herum, um sowohl wortwörtlich als auch metaphorisch den stechenden Rosenduft zu vertreiben.
"Miststück...", zischte Nerth und wurde dabei rot um die Nase, was bei dem sonst so blasierten Diener eine erstaunliche Gefühlsregung war.
"Schleimbolzen.", hauchte sie ihn an und grinste. "Ich darf wenigstens meine Herrin Serelle nackt sehen."
Auch dieser Stich hatte gesessen und Nerth plusterte sich auf, bevor ihm allerdings die Luft ausging und er wortlos in einer Art an dem Blutgelehrten vorbei aus der Brutkammer stolzierte, als hätte er ihr generös den Sieg geschenkt.
Das war knapp gewesen. Kiara wusste nicht, wie lange sie diese Feindschaft noch ertragen konnte, ohne ihn umzubringen. Er wäre der zweite Vampir, den sie überhaupt töten würde. Der erste war Kollateralschaden gewesen? Konnte man das so sagen?
Auch das bereitete ihr manchmal noch nachdenkliche Stunden, aber für ihre Herrin Serelle würde sie noch einmal töten und so lange töten, bis ihre Herrin zufrieden oder in Sicherheit war.
Von nun an würde sie ihren Dolch immer dabei haben und sei es am Oberschenkel. Doch nun musste sie hier raus und mehr als dringend duschen und die Kleidung wechseln!