38. Hekaphaurus 6542 der Vierten Ära nach der Landung in Lethalia (NL)
Kurz nach Sonnenuntergang
Serelle
Serelle setzte sich in den Klassenraum, der die Bezeichnung nicht verdient hatte. Es war mehr ein größerer Raum, in dem ein paar Leute saßen, denn abgesehen von dem Lehrer war Serelle nur noch mit fünf anderen Anwärterinnen in dem Raum. Die Schülerinnen hatten sich alle in dem Raum verteilt und Serelle hatte unmissverständlich klar gemacht, dass sie den Platz am Fenster mit Blick auf die Tür hatte.
Eine Angewohnheit, die sie von ihrem Kampflehrer übernommen hatte. Diese fand sie seltsam nützlich. Es war immer gut, wenn man einen Fluchtweg, eine gute Übersicht und den Eingang sehen konnte, von dem potentielle Gefahr drohen würde. Am besten wäre noch eine erhöhte Position, aber die bekam man so schlecht in einem Klassenzimmer. Und auf den Schrank wollte sie sich nicht setzen.
Noel, ihre Lehrerin um alles rund um die Priesterschaft, hatte ihr Buch aufgeschlagen und schaute mit ihren grauen Augen in die Runde. Serelle wusste nicht, wie alt sie war, aber die Frau war hübsch und hatte einen scharfen Verstand. Außerdem kannte sie keine Gnade bei Störungen oder Missständen und machte auch nicht Halt davor, einer adligen Vampirin den Hintern zu versohlen. Was bei den Eltern häufig auf Billigung traf.
Dabei zuzusehen, wie Noel ihren Rohrstock auf den blanken Hintern von Viktoria fahren ließ - von den Schmerzensschreien mal abgesehen - war für Serelle Lehre genug. Sie würde sich hüten, die Lehrerin zu ärgern, solange die Abbaturi-Tochter noch unter ihr lernen würde. Viktoria würde diese Lektion sicherlich ihren Lebtag nicht vergessen.
"Ruhe!", ordnete Noel an, obwohl niemand etwas gesagt hatte. "Da unsere Serelle Abbaturi", sie betonte den Nachnamen mehr als kalt und sehr deutlich, "ihre letzten Tage bei uns hat, werden wir sie heute eingehend auf das Aufnahmeritual vorbereiten."
"Müssen wir dabei sein?", fragte Illara und stöhnte, als Noel nickte. "Dann hoffe ich für sie, dass sie es schnell in ihren Kopf bekommt."
"Keine Sorge.", lächelte Serelle kalt, zeigte ihren Eckzahn. "Als Tochter einer Abbaturi sollte ich so etwas schon beherrschen."
"Große Worte, dann lass uns beginnen.", ging Noel dazwischen und Serelle schwor sich, irgendwann Viktoria und Illara untertan zu machen. Wie, wusste sie nicht, aber aufsässige Vampire, die nicht wussten, wo ihr Platz war, musste der Platz gezeigt werden. Und wenn es zu ihren Füßen war.
Noel erzählte Serelle einmal das gesamte Ritual in ihrer kalten, langsamen und betonten Art. Dann wurde Serelle abgefragt und wenn sie etwas nicht wusste oder nicht schnell genug beantwortete, bekam sie den Rohrstock gegen den Arm. Nicht allzu fest, aber die Schläge zogen doch ganz schön.
Nach über vier Stunden und zwei wunden Oberarmen später hatte Serelle die Abläufe verinnerlicht, dachte sie, und war überzeugt davon, diese in einem Rutsch aufsagen zu können. Das sagte sie Noel aber nicht, was die hübsche Lehrerin nicht störte, denn diese pochte mit dem Rohrstock vor Serelle auf den Tisch und baute sich zu ihrer stattlichen Größe auf. Ihre Muskeln waren unter ihrer Kleidung gut zu sehen und Serelle wusste, dass sie in ihrer Freizeit Bücher las und Gewichte stemmte. Gerüchte besagten, manchmal stemme sie auch Bücher.
"J-Ja?", fragte Serelle zögerlich, wusste aber, was die Lehrerin von ihr wollte. Beide Oberarme brannten wie Feuer von den Schlägen.
"Wir haben schon deutlich überzogen.", lächelte die Frau sie kalt aus den grauen Augen an. Dieses Lächeln war so trügerisch schön, dass Serelle versuchte, es in ihrer Erinnerung abzuspeichern. Man konnte nie wissen, wann man so ein Lächeln brauchen würde.
"Ja?", kam die verwirrte Rückfrage von Serelle.
"Das heißt, die anderen - und ich auch - wollen in die Pause und endlich etwas essen." Sie ließ den Rohrstock durch ihre Hände wandern. "Also hast du die Wahl: entweder du schaffst es, das gesamte Ritual am Stück aufzusagen und wir können alle etwas essen oder du schaffst es nicht und wir machen so lange weiter, bis du es schaffst. Ohne Pause."
Allgemeines Stöhnen aus den hinteren Reihen.
"Und wenn das nicht reicht, machen wir auch den Tag durch, bis unsere Abbaturi-Erbin es schafft, die Ausführung fehlerfrei aufzusagen."
"Ich bin morgen verabredet.", zischte irgendwer aus den hinteren Reihen. "Wehe, die kleine Schnepfe schafft das nicht."
Diese kleine Schnepfe wirst du noch anbetteln, dachte Serelle bei sich, schaute Noel an, holte Luft und nickte.
"Die Anwärter werden, getrennt nach Geschlecht, in Kammern gebracht, wo sie sich entkleiden, waschen und in weiße Gewänder hüllen. Dabei rezitieren sie die Gebote der Infernalé. Sie dürfen an dem Tag weder essen noch trinken und müssen nüchtern bleiben."
Serelle befeuchtete ihre Kehle mit etwas verdünntem Traubensaft und sprach weiter.
"Sobald es auf Mitternacht zugeht, wechseln die Anwärter zum Infini Inferné, rezitieren von Anfang bis Ende und wiederholen sich, sollten sie noch nicht gerufen worden sein. Auch hier darf nicht getrunken, gegessen und - abseits vom Rezitieren - auch nicht gesprochen werden.
Sobald die Anwärter gerufen werden, dürfen sie aufhören zu sprechen und folgen den Priestern in zwei Reihen, getrennt nach Geschlecht, in den Tempel der Infernalé, wo meine Eltern uns am Altar erwarten werden.
Beide rufen die Infernalé an, sobald die Anwärter sich gegenüberstehen. Normalerweise sollten die Götter erscheinen, Krilash bei den Männern und Shirash bei den Frauen.
Beide Götter sprechen zu den Anwärtern und geben ihr Blut in jeweils einen Kelch. Dieser Kelch wird herumgereicht, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen.
Die Götter bleiben noch da oder verschwinden, genau kann man das nicht sagen. Im besten Fall beginnt dann die Umwandlung der Anwärter und nach Vollzug haben im besten Fall ein paar Anwärter überlebt und der Abbaturi-Clan ist um ein paar magiebegabte Priesterinnen und ein paar kämpfende, starke Mönche reicher."
Serelle schaute erwartungsvoll Noel an, die den Rohrstock in den Händen wog, ihre grauen Augen schauten kalt herab, bis sie tief Luft holte.
"Mittagspause.", sagte sie in den Raum hinein. "Für alle, bis auf...dich." Damit drückte sie Serelle den Rohrstock auf die Schulter. Erleichterte Geräusche aus den hinteren Reihen, Stoff raschelte, Bücher wurden zugeklappt und die anderen adligen Vampir-Frauen verließen hastig den Raum.
Dann war Serelle mit der älteren Frau allein, die den Rohrstock allerdings sinken ließ und sich auf ihr Pult setzte, das dunkle Kleid raschelte dabei und spielte um ihre Beine.
"Habe ich etwas nicht korrekt aufgesagt?" Serelle blieb erstmal sitzen, formulierte ihre Frage aber absichtlich so, denn sie war eine Abbaturi und Abbaturi gaben keine Fehler zu.
"Nein, es war bis auf ein oder zwei Formulierungen fachlich korrekt." Noel legte den Kopf schief. "Ich verstand, du bist dazu ausersehen, eine Pilgerreise zu unternehmen?"
"Das ist richtig, ja. In spätestens zwei Wochen, sobald der Unterricht abgeschlossen ist."
"Wie geht es dir nach der Geburt?"
"Wie soll es mir schon gehen?" Serelle hob eine Schulter. "Manche Bewegungen schmerzen immer noch, ich ertrage den Gedanken an das Kind nicht und meine Eltern verabscheue ich immer noch. Abgesehen davon habe ich vor zwei Tagen den Erzeuger und dessen Eltern umgebracht und ich vermute, ihre Blutlinie sollte nun auch erloschen sein."
"Ich verstehe." Noel rutschte wieder von dem Pult und deutete Serelle aufzustehen, welche es auch rasch tat, ihre Ledermappe einräumte und schloss. Sie wollte an der schönen, kühlen Frau vorbeihasten, aber diese packte Serelle am Arm, ihre Hand überraschend warm.
Serelle schaute sie an, ihre dunkelroten Augen fixierten die deutlich größere Lehrerin. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann", sprach die Frau leise, "so musst du es nur sagen."
"Ich...verstehe. Danke." Serelle schaute die Hand der Frau an wie als Aufforderung, aber Noel ließ nicht los.
"Wirklich, bei allem, wo du Hilfe brauchst. Bei wirklich allem.", sagte Noel noch einmal eindringlicher, bevor sie sich von Serelle löste, die rasch aus dem Raum eilte.
Erst, als sie aus dem Roten Skriptorium entschwunden und schon fast wieder in der Nähe der Essensausgabe war, begann sie langsam zu begreifen, was Noel ihr da angeboten hatte.
Die Frau wollte ihr helfen.
Egal, bei was es war. Und sei es gegen ihre Eltern.
Serelle wusste nicht wie, aber sie hatte neben Rovar ihre erste freiwillige Verbündete bekommen.