Kapitel 5

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Enrik vom Hause Grünzweig hatte sein Ziel erreicht. Die gelb-orangenen Roben der Anhänger, des Allsehenden und sein dunkelgrüner Umhang, waren mittlerweile weiß gefärbt. Dabei war er erst davon ausgegangen, dass jene schon bald blutrot getränkt werden würden. Keine wilden Plünderer oder Barbaren hatten sie attackiert. Stattdessen waren sie vom Wind und der Kälte geplagt worden, bevor sie den sicheren Hafen der äußeren Mauer erreichten.


Diese bot ihren Schutz und erhob sich, wenn auch unförmig wie eine Fehlgeburt, aus dem Stein des Berges und streckte sich in die Wolken. Jene küssten hier und da den Berg und verschlungen dessen höchsten Teil vollkommen. Dort, hinter diesem Meer aus Weiß lag sie. 
Es galt das Tor für die Soldaten zu öffnen, oder jene, die übrig waren.

Etwas war über ihnen zu erkennen. Steinerne Mauern legten sich um eine Erhöhung, welche sich schon bald als Bergspitze entpuppte. Weniger wie die gütige Umarmung einer Mutter, als ein tödlicher Griff. Der Übergang von Mauern zu Berggestein ließ es aussehen, als wäre der Steinwall bereits vor dem Berg gestanden und dieser wäre wie eine Pflanze in jenen hineingewachsen. 
Der vernarbte Mann wählte jeden weiteren Handgriff mit mehr Bedacht, als den letzten. So kurz vor dem Ziel wollte er nicht abrutschen. Dazu kam ebenfalls, dass er weitere Männer mit sich reißen würde, da hinter ihm wieder so manche aufgeschlossen hatten. 
Theovin hatte einen Großteil des Aufstiegs damit verbracht, um sein Leben zu fürchten und die Schmerzen zu ertragen, welche die Kälte und die Anstrengung forderten. Mittlerweile hatte er sich an diese Gefühle gewöhnt und damit glich der Aufstieg nicht mehr der Folter, die er weiter unter dargestellt hatte. Der Berg flachte ab. 


Das Hungergefühl des Mannes setzte ein. Dies geschah normalerweise eher am Abend, doch die Sonne war  nicht an ihrem tiefsten Punkt angekommen. Sie war verborgen hinter den Wolken, doch ihre Strahlen erleuchteten die Umgebung. Der Schnee warf sie zudem in die Augen eines jeden Betrachters, weshalb Theovin seine stets zusammenkneifen musste. Die Erschöpfung trieb ihn, ritt ihn wie ein Reiter, den das Wohl seines Pferdes nicht kümmerte. 


Er hatte Zeit zum Nachdenken. Zu viel davon. Warum tat er das alles nur? Irgendwann hatte er es einmal gewusst. Danach war er nur mit dem Strom geschwommen. Immer in die Richtung, in welche die anderen Fischlein sich bewegten. Er wollte Nahrung, Unterkunft und Gemeinschaft. Das war alles, wonach es ihm verlangte. Und wenn er dafür grausame Taten vollbringen musste, dann war es so. Der größere Fisch frisst nun mal den Kleineren und viele Fische überleben eher als wenige. 


Diese simplen Wahrheiten hatte er vor langer Zeit gelernt. In einem anderen Leben hatte er Angebote ausgeschlagen und Geschenke nicht angenommen. Mittlerweile wusste er, dass Stolz und Ehre so viel Wert wahren, wie eine Medaille und ein Empfehlungsschreiben im Krieg. Sie würden nicht vor den feindlichen Pfeilen, Schwertern oder Ketten schützen. Früher einmal hätte er dem Mann, der nach seinem Bein griff, aufgeholfen, jetzt würde er ihn in den Abgrund treten, ohne zu zögern. Schließlich erwartete er von niemandem ein anderes Verhalten. Er glaubte daran, dass es sich auszahlte, bei seinen Mitmenschen zwar das beste zu erhoffen, aber auf das Schlimmste vorbereitet zu sein.
Daher hatte er sich an Belasars Fersen geheftet. Es gab keinen größeren Fisch, in Theovins Teich.

Der Schneefall legte sich und das Heulen des Windes verstummte allmählich. Nahe der Festungsmauern bot der Gipfel genug Windschutz, dass man den Vordermann hören konnte. Belasar schnaubte wie ein Wildschwein. Zwar war er belastbar, jedoch trug er seine Anstrengungen gern nach außen, ob es jemand beachtete oder nicht. 
Theovin versuchte sein Glück erneut. 


„Belasar! Ich bin es!“, rief er zu diesem hinauf.
Der Bär stoppte und sah zu seinem Weggefährten hinab, welcher ihn ausnahmsweise freudig anguckte. Er wartete, bis dieser auf seiner Höhe war und zog den zerbrechlichen Mann - etwas zu ruppig - an sich heran. Theovin war schon davon ausgegangen, dass ihm Belasar um den Hals fallen würde, aber stattdessen wollte sich dieser nur mit ihm unterhalten.


„Du lebst ja noch. Glückwunsch.“
„Gleichfalls“, erwiderte Theovin. 


Er verstand nicht, wieso der große Mann ihn ungleich der anderen behandelte. Theovin war weder mutig, gebildet, noch in irgend einer Weise nützlich für den Bären. Womöglich unterhielt er den Koloss von einem Mann, auf eine gewisse Weise. Schlussendlich kümmerte es den Vernarbten nicht, solang er in der Gunst des anderen stand.
„Denkst du nicht auch, dass das hier die Idee eines Narren.. eines Irren ist?“, fragte Belasar den anderen mit weit aufgerissenen Augen, als würde er eine ernsthafte Antwort erwarten.


Unter den beiden, wollte sich jemand an ihnen vorbeidrängeln, doch Belasar trat einzig einen Schritt nach vorn und verscheuchte den zitternden Mann mit einem zornigen Blick. Dann drehte er sich wieder zu Theovin, welcher nicht geantwortet hatte. Dieser schwieg und musterte den großen Mann mit fragender Mine.
„Na denk doch mal darüber nach. Warum sollte man uns einen Berg hinauf und dann wieder hinunterschicken? Um einen Feind abzuwehren, welcher in die Nordlande einfällt?“
„Was kümmert es mich. Der Krone sind wir doch egal. Ich denke nicht, dass unsere Gesundheit der Vornehmheit Kopfzerbrechen bereitet.“
„Darum geht es doch!“


Theovin war nicht klar, ob Belasar der Idiotie verfallen war, oder ob er zu viel Met gesoffen hatte. Er blickte sich um und sah nervös zu den mittlerweile drei Männern, welche an ihnen vorbeischreiten wollten, sich aber vor Belasars bloßer Erscheinung fürchteten und die beiden stattdessen mit bösen Blicken bewarfen. 
„Hör mir zu Theovin. Was ist, wenn dort oben gar kein Feind auf uns wartet? Und selbst wenn es diesen Feind gibt, warum warten wir nicht am Fuße des Berges auf dessen Vorrücken?“


Theovin kümmerte sich nicht um Taktik und Kriegsführung. Das überließ er den Adligen, welche gierig nach Ehrungen und Titeln waren.
„Ich halte es ja auch nicht für eine angenehme Reise ...“
Theovin wehte die Bierfahne des Bären entgegen, doch versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen.
„... aber was bringen uns diese Überlegungen? Ich persönlich habe kein Interesse, sofort wieder umzukehren.“ 
Belasar nickte, drehte ihm den Rücken zu und kletterte wieder. So beendete der große Mann die meisten Gespräche: Er ging weiter seines Weges.


Und jenem Weg folgte Theovin, auch wenn es ihm zunehmend schwerer fiel, zu atmen. Entweder war es die Anstrengung, oder das, was von manchen als das „Bergfieber“ beschrieben wurde. In der Höhe sollte man angeblich schwerer Luft bekommen, Kopfschmerzen und ein Gefühl wie bei Trunkenheit sollte sich einstellen. Bisweilen litt Theovin nur unter Ersterem, worüber er äußerst dankbar war.
Als sein Kopf gerade zu schmerzen begann, fand sich der ehemalige Bauer vor einem Tor aus massivem Holz wieder. Dieses war voller Kerben und mit Rissen übersäht. Es ähnelte dem Gestein darum herum, bis auf die Farbe. Das Tor war dunkler als die grauen Felsen. 
Etwa zwei Dutzend Soldaten hatten sich davor versammelt. Der Aufweg lag in etwa hundert Schritte von ihnen entfernt und es wurden stetig mehr. 


Theovin stellte fest, dass er fast keinen der Männer kannte, welche nach ihm das Plateau betraten. Er hatte sich mit niemandem außer Belasar länger als nötig unterhalten, doch nicht einmal die Gesichter, waren ihm bekannt. Dies konnten keine Männer der Vorhut sein. Hatten es etwa nur so wenige geschafft? 
Das volle Ausmaß ihrer Verluste sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt einem anderen Mann klar werden, welcher zur selben Zeit auf der Rückseite des Tores versuchte jenes zu öffnen. 

 

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