30. Juli 1957

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Der Hoteldirektor führte seine Gäste zu dem mit einer roten Tischdecke vorbereiteten Tisch im Frühstücksraum, der mit Palmen in Tontöpfen geschmückt war. Auf dem Tisch befanden sich bereits frisch gebackene Fladenbrote, verschiedene Aufstriche sowie herrlich duftende Zimt-Blätterteig-Bäckereien. Als alle sich gesetzt hatten, servierten Angestellte heißen Kaffee in kleinen Kupferkannen. „Wir rösten den Kaffee selbst.“, eröffnete der Hoteldirektor seine überschwängliche Präsentation der verschiedenen Speisen.

An vier anderen Tischen saßen jeweils Paare, die sich leise unterhielten und von der Gruppe keine Notiz nahmen. „Und lassen Sie mich Ihnen zum Schluss eine besondere Überraschung präsentieren, die das Temperament unserer Revolutionäre kulinarisch zum Ausdruck bringt.“ Auf ein Schnippen brachte ein Angestellter einen Wagen und flambierte vor ihren Augen Crêpes Suzettes.

Johann, der hervorragend in dem weichen Himmelbett geschlafen hatte, fühlte sich durch diesen weiteren Rausch für die Sinne noch mehr in seiner Hochstimmung gestärkt. Er naschte noch vor den Crêpes von den zimtigen Köstlichkeiten und trank zwei Tassen Kaffee. Die Fülle der Farben, die heiß-feuchte Luft und die ungewöhnlich bunte Kleidung, die er trug, vermittelten ihm das Gefühl, einen Traum zu durchleben. 

Aleksandra hingegen hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Zu viele Fragen waren ihr durch den Kopf gegangen: Wie sicher waren sie hier? Wie stand der Putsch? Wie lange würde es dauern, bis die Funkstation im Norden den Auftrag bekam, nach ihnen zu suchen? Was war mit General Schelepin? Auf jeden Fall musste schnell ein guter Plan her, um die Insel gegebenenfalls sofort zu verlassen. Und um Schelepin zu informieren, dass sich die Gruppe nicht in Neu-Weimar, sondern in Sansibar befand, fast siebentausend Kilometer weiter südlich. Denn Aleksandra hatte keine Ahnung, ob der General von Oberstärztin Bogenza über den neuen Aufenthaltsort informiert war, schließlich arbeitete die Ärztin in einer anderen Abteilung. Trotzdem musste der Schein aufrecht erhalten werden. Und wer weiß, vielleicht könnten die Begegnungen vor Ort für die Zeit nach dem Putsch nicht uninteressant sein. 

„Wir möchten heute gerne die Stadt besichtigen. Sollten wir auf irgendetwas achten?“, fragte sie daher den Direktor. 

Der überlegte kurz, nahm einen Schluck Kaffee und antwortete: „Grundsätzlich ist es für Touristen immer ein guter Einstieg, eine Rundfahrt mit einer Pferdekutsche zu machen. Ich kann gerne eine kommen lassen. Als Frau sind sie genau richtig gekleidet, bodenlang und mit bedeckten Schultern. In den traditionelleren Stadtvierteln ist es immer noch üblich, auch ein Kopftuch zu tragen.

Johann wurde durch diesen Hinweis an den denkwürdigen Abend in der Moskauer Oper und anschließend in der osmanischen Botschaft zurück erinnert, der ihm Aleksandra zum ersten Mal bewusst als schöne Frau gezeigt hatte. Zugleich vertrieb er die Erinnerung an jenen Abend schnell wieder, zumal er sich auch beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, wie er von der Botschaft nachhause gekommen war.

„Auf etwas müssen Sie heute doch achten, das hatte ich ganz vergessen; oder besser verdrängt, weil es eigentlich eine Frechheit ist: Die Frau des britischen Konsuls ist vorige Woche bei einem Reitunfall gestorben und wird heute begraben.“

Johann hörte kurz mit dem Essen auf: „Aber was sollte an einem Begräbnis frech sein.“

Und mit einem Blick auf Aleksandra fügte er hinzu: „Es kann ja zu einem Ausdruck der Ehrung des Verstorbenen und der Fortführung seiner Projekte in der nächsten Generation geschehen, so wie es sehr schön das Begräbnis des stellvertretenden Ministerpräsidenten von Thüringen, Otto Nuschke, heuer Anfang März zeigte.“

Der Direktor schüttelte den Kopf: „Entschuldigen Sie, doch hier ist die Lage doch ernster als im sicheren thüringischen Osten. Der Konsul hat darauf bestanden, dass seine Frau in seinem Haus aufgebahrt wird. Bei unserem Klima ist das schon sehr riskant und zugleich eine Provokation für den Sultan, dessen Religion ein Begräbnis am selben Tag vorschreibt – was durchaus auch in materialistischer Hinsicht klug ist. Nun hat der Konsul aber verlangt, dass seine Frau ein Begräbnis auf dem katholischen Friedhof neben dem Kloster der Benediktinerinnen bekommen soll.“

Aleksandra und Johann horchten zugleich auf. Johann fragte: „Es gibt eine katholische Kirche in Sansibar?“

Der Direktor war über die Unterbrechung seiner entrüsteten Ausführungen verärgert, wollte aber dem Gast nicht unhöflich erscheinen.

„Ja, das ist erstaunlich. In der Zeit der portugiesischen Besatzung wurden landauf, landab viele fromme Kommunen gegründet. In der Hauptstadt hat sich nur diese Ansammlung verrückter Frauen gehalten; 28 Nonnen, die dort zumindest ein Krankenhaus betreiben und nicht nur den ganzen Tag lateinische Gesänge singen und sonst nichts tun.“

Um Johann vor weiteren antikatholischen Tiraden zu bewahren, versuchte Aleksandra das Thema wieder auf das Begräbnis zu lenken. Der Direktor nickte dankbar: „Ja, und dann lässt der Konsul nicht nur das Begräbnis so lange verschieben, bis sein Neffe aus England herkommt, der katholischer Priester ist, nein, er setzt auch noch durch, dass der Sarg seiner Frau in einer Prozession von seiner Residenz zum Friedhof überführt wird, quer durch die Stadt. Daher wird zum Teil der Verkehr gesperrt, zum Teil Polizei zum Schutz dieses Aufmarsches eingesetzt.“

Aleksandra versuchte, das Skandalöse daran zu erkennen. Als könnte er ihre Gedanken lesen, erklärte der Direktor: „Es geht doch gar nicht um dieses religiöse Spektakel. Die Briten wollen einfach wieder einmal zeigen, dass sie sich hier alles erlauben können. ‚Britischer Konsul und Militärberater des Sultans‘, so etwas Lächerliches, in Wirklichkeit ist dieses fette britische Schwein der wahre Regent von Sansibar. Aber das wird hoffentlich die letzte Demütigung gewesen sein. Mit Ihrer Unterstützung…´“ er wandte sich vertraut Aleksandra zu, die zurückhaltend den Kopf neigte, „Und natürlich Ihrer…“, fügte er auf Johann blickend hinzu, „werden wir diese Briten bald loswerden. Und dann kann der Sultan entscheiden, ob er den Weg des Fortschritts geht, oder zurück zu seinen arabischen Vorfahren flieht.“

Das Gespräch ging dann über zu den Möglichkeiten der Steigerung landwirtschaftlicher Produktion mithilfe einer Bodenreform, zu den in Sansibar wachsenden Früchten und schließlich zum Austausch von belanglosen Höflichkeiten über die Qualität des Hotels und den Einfallsreichtum der Vorhanggestaltung. Thomas und Leonid blätterten beide während des Gesprächs die englischsprachige Zeitung durch, die auf einem Beistelltisch gelegen hatte. 

Als die Gruppe schließlich vor dem Hotel stand, um die Stadt zu erkunden, wandte sich Johann an Aleksandra: „Ich weiß, dass meine Bitte vermessen ist, aber da wir heute sowieso nichts Sinnvolles tun könnten, würde ich gerne zu diesem Kloster gehen. Wenn sich beim dortigen Begräbnis für mich die Möglichkeit böte, am Gottesdienst teilzunehmen, wäre ich sehr glücklich.“

Aleksandra dachte nach: „Du möchtest also dorthin gehen, das Ritual anschauen und dann dieses dünne Weißbrot essen?“

Johann schüttelte den Kopf: „Nein, zur Kommunion kann ich heute nicht mehr gehen, da ich schon gefrühstückt habe. Aber der Messe beizuwohnen ist auch ohne diese Vervollkommnung wichtig für mich.“ 

Aleksandra überlegte, ob irgendetwas dagegen spräche. Schließlich fand sie die Idee sogar sehr gut. Wenn Johann durch seinen Kirchgang abgelenkt war, hätte sie Zeit, mit Moskau Kontakt aufzunehmen und vor Ort noch andere Kommunisten zu besuchen. Wenn Johann nicht alle kannte, war auch die Gefahr geringer, dass er absichtlich oder unabsichtlich jemanden verriet. „Aber verhalte dich bitte unauffällig. Ich werde mit Leonid die Stadt erkunden und unsere mögliche Weiterreise planen. Thomas wird dich begleiten.“

Der vertraute Geruch von Weihrauch, abgestandenem Blumenwasser und verbranntem Kerzenwachs weckte in Johann die Erinnerung an die Selbstverständlichkeit, mit der er bis vor drei Monaten jeden Tag in einer Kirche oder Kapelle gewesen war. Thomas hatte sich neben ihn im hinteren Teil der üppig barocken Klosterkirche gesetzt. Neben dem Altarraum war vorne rechts ein Gitter mit einem Vorhang, hinter dem – wie Johann Thomas erklärte – die Nonnen säßen, um nicht gesehen zu werden und doch die Messe miterleben zu können. 

Auch Thomas gingen in dem bedrückend dunklen Kirchenraum Gedanken durch den Kopf. Er überlegte hin und her und fasste schließlich den Mut, Johann anzusprechen: „Könnte ich bei dir etwas beichten?“

Johann, der sich innerlich auf den Gottesdienst vorbereitete, der bald beginnen musste, antwortete: „Grundsätzlich habe ich keine Jurisdiktion für diesen Bereich, also eigentlich nicht.“

Thomas war verwirrt: „Das verstehe ich nicht.“

Johann überlegte, wie man das komplizierte System der kirchlichen Zuständigkeiten erklären sollte, verwarf aber dann die ausführliche Variante: „Wenn Todesgefahr besteht, kannst du jederzeit bei mir beichten. Ich sollte zwar anders gekleidet sein; und wir sollten in einen Beichtstuhl gehen, aber die gegenwärtige Lage hat ja etwas durchaus Lebensgefährliches. Wenn es dir also sehr wichtig ist, können wir nach dem Gottesdienst noch hier bleiben. Ich werde dir dann die Beichte abnehmen.“

Das Zeichen der kleinen Glocke neben dem Sakristeiausgang lud alle Anwesenden zum Aufstehen ein. Das große Kirchentor wurde geöffnet. Hinter einem schwarzen Vortragskreuz folgten der mit einem schwarzen Samttuch bedeckte Sarg, dahinter einige Ministranten und ein Priester im schwarzen Pluviale. Dahinter ging gefasst ein beleibter älterer Herr mit auffälligem Backenbart, hinter ihm etwa fünfzig schwarz gekleideter Personen.

Johann, der kein besonderes Interesse an dem Trauerzug hatte, wollte sich schon in die kniende Haltung begeben, in der er der Messe üblicherweise folgte, als ihn plötzlich eine Stimme aufrüttelte. Es war doch unmöglich, dass er die Stimme des Priesters, der gerade drei Gebete sang, erkannte. Mehr der Haltung der anderen folgend, kniete er sich hin. Dabei bemerkte er, dass nur sehr wenige der Trauergäste ebenfalls knieten; die meisten setzten sich. Das werden wohl Anglikaner sein, die dem Konsul in dieser schweren Stunde beistehen wollen, aber nicht an einem katholischen Gottesdienst teilnehmen. Aber der Priester. Konnte es möglich sein?

Johann bereute es, so weit hinten zu sitzen. Dem gewöhnlichen Ablauf folgend konnte Johann bis zum Ende des Gottesdienstes nur den Rücken des Priesters sehen. Obwohl er sich ganz auf den Gottesdienst konzentrierte, schweiften Johanns Gedanken immer wieder ab. Erst am Ende der Feier würde er wieder die Gelegenheit bekommen, den Priester aus der Nähe zu sehen. Endlich setzte sich der Zug mit dem Sarg erneut in Bewegung, um zum Friedhof zu gehen.

Ja, kein Zweifel, es war James, sein Studienkollege aus Rom. James hatte nie etwas davon erzählt, dass sein Onkel Konsul war. Im Gegenteil, er hatte oft und oft die Diskriminierung der Katholiken in Großbritannien gegeißelt, wo nach Gesetz jedes höhere Amt für Katholiken verboten war.

Als der Trauerzug die Kirche verlassen hatte, wollte Johann aufstehen und dem Zug folgen. Er musste unbedingt mit James reden. Thomas stand ebenfalls auf, wirkte aber verwirrt: „Gehen wir doch woanders hin?“

Johann fiel wieder ein, dass Thomas etwas beichten wollte. Er war hin- und hergerissen. Sollte er dem alten Freund folgen, der ihm als Neffe des britischen Konsuls möglicherweise sofort hier heraushelfen konnte? Oder war seine erste Pflicht, als Seelsorger für einen Bittenden da zu sein?

Johann zögerte nur kurz und setzte sich dann: „Üblicherweise sitze ich, während du kniest.“ Thomas kniete sich hin und fing an: „Ich war schon lange nicht mehr beichten. Und eigentlich gibt es auch nur eine Sache, die ich wirklich bereue: Ich bin verlobt mit einer sehr netten, hingebungsvollen Frau. Wenn ich nach meinem Einsatz zurückkäme, wollten wir heiraten. Und jetzt habe ich sie völlig sinnlos betrogen.“ 

Johann hatte so etwas schon so oft gehört, doch bei Thomas tat es ihm irgendwie persönlich leid. Er hatte den jungen Unteroffizier eigentlich für schüchtern gehalten. Vielleicht war er ihm auch deshalb so sympathisch gewesen, weil er in ihm eine gewisse Seelenverwandtschaft gefunden hatte: jemand, der ganz seinem Beruf lebt und dessen Privatleben eher verkümmert ist. Nun hatte er nicht nur eine Verlobte, sondern auch eine Geliebte. Doch Johann musste hier seine persönlichen Überlegungen von seiner professionellen Aufgabe trennen. Er sprach zu Thomas, ohne ihn anzuschauen: „Da ihr noch nicht verheiratet seid, ist es kein Ehebruch. Dennoch ist es eine Sünde, weil du mit einer Frau geschlafen hast, mit der du nicht verheiratet bist. Du bist ihr gegenüber damit eine moralische Verpflichtung eingegangen. Wenn sie möglicherweise ein Kind von dir empfängt…“

„Es war Leonid. Ich habe mit Leonid geschlafen. Zweimal.“

Johann sog tief Luft ein. Das machte die Sache nicht nur komplizierter; das verwirrte ihn völlig. Er arbeitete seit über drei Monaten täglich mit Leonid zusammen und hätte nie bemerkt…halt…woran sollte man auch bemerken, dass er mit Männern schläft? Wobei, hatte nicht dieses Zimmermädchen auch mit ihm geschlafen? Was sollte er jetzt zu Thomas sagen: dass es harmloser wäre, weil zumindest nicht die Gefahr bestand, dass es eine echte, emotionale Beziehung wäre, sondern nur flüchtige Lust? Johann entschied sich für eine pragmatische Lösung: „Wie gesagt, du hast keinen Ehebruch begangen. Und unter diesen Umständen besteht weder die Gefahr, dass eine Frau ein Kind von dir empfangen haben könnte, noch dass du versuchen wirst, eine dauernde Beziehung aufzubauen. Du bereust einen einmal wiederholten Fehler, den du nicht wieder begehen wirst. Du wirst deine Verlobte wie versprochen heiraten. Und zur Buße wirst du…“ Johann überlegte. Einige Gebete schienen ihm im Angesicht der Belastung, die das Gesagte für Thomas bedeuten musste, unangemessen. Und die Heirat der Verlobten konnte ja wohl kaum als Buße angerechnet werden. „Zur Buße wirst du, sobald du wieder in Österreich bist, zu Fuß und ohne in einer Herberge zu übernachten, nach Mariazell wallfahren. Und du wirst ohne weiteren Groll mit Leonid zusammenarbeiten.“

Das Geständnis hatte Johann jetzt auch die merkliche Spannung zwischen Leonid und Thomas erklärt, die er bis jetzt nicht verstanden hatte. Die beiden waren ihm ja als gute Freunde erschienen, als sie noch im Zug Richtung Moskau saßen. Thomas seufzte zugleich angestrengt, aber auch erleichtert. Der Vorteil dieses Rituals war, dass man sich durch die Ableistung der Buße besser fühlen konnte. Zwar wäre es einfacher dreimal nach Mariazell zu gehen, als mit Leonid so zusammen zu arbeiten, als sei nie etwas gewesen, aber irgendwie war das jetzt ein Befehl. Ihn auszuführen war nicht sein Wunsch. Insgeheim wusste auch Thomas, dass ihm trotz aller Enttäuschung und auch der Frage nach seiner Verlobten immer noch viel an Leonid lag.

Johann sprach die Absolutionsformel und kniete sich dann ebenfalls hin: „Ich werde für dich um Kraft beten. Und auch für mich selbst, denn auch ich werde mit diesem Wissen jetzt leben und mit euch beiden zusammenarbeiten müssen. Aber du brauchst keine Sorge zu haben, ich bin durch das Beichtgeheimnis absolut gebunden. Aleksandra wird nichts davon erfahren.“

Thomas setzte sich: „Ach, das ist kein Problem, sie hat uns miteinander erwischt, vorgestern im Hotel. Das ist auch der Grund, warum ich mit auf dieser Reise bin: Ich hatte bei Leonid übernachtet. Und Aleksandra hatte ihm alles über Putsch und Evakuierung erzählt, bevor sie mich bemerkt hat. Leonid hat sie davon abgehalten, mich zu erschießen.“ 

Johann war verwirrt, blieb aber knien: „Und sie hat sich nichts dabei gedacht, dass ihr beide Männer seid?“

Kaum hatte Johann die Frage ausgesprochen, biss er sich auf die Lippen. Er wollte in keinem Fall abschätzig über Sodomisten reden.

Nachdem Johann und Thomas Richtung Kirche gegangen waren, wandte sich Aleksandra an Leonid: „Am besten, wir erfragen vom Hoteldirektor Adressen von Genossen, mit denen wir dann zum Schein Kontakt aufnehmen, um unsere Mission so glaubwürdig als möglich erscheinen zu lassen. Gleichzeitig müssen wir versuchen, so viel als möglich über die Vorgänge in Moskau zu erfahren.“

„In der Zeitung war nichts zu lesen, nur Speichelleckerei Richtung Istanbul und London und lokaler Quatsch.“ Leonid war erneut über ihre Professionalität erstaunt. Peinlichkeit war kein Gefühl, das er kannte, aber die gestrige Begegnung mit ihr, die unerwarteterweise für sie auf der Bank im Wohnzimmer geendet hatte, ließ ihm doch keine Ruhe. Sollte er sich für das Angebot entschuldigen, das er ihr gemacht hatte? Oder, was ihr wohl mehr imponieren würde, sollte er durch größeren Arbeitseifer ihre Aufmerksamkeit erringen. Denn eigentlich war er es nicht gewohnt, eine Abfuhr zu erhalten.

„Ich habe heute schon alle Tageszeitungen, die in englischer und deutscher Sprache verfügbar waren, auf entsprechende Nachrichten geprüft. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf einen Putsch in Moskau oder an einem anderen Ort der Welt. Schlagzeilen machen vor allem die Sperre des Panama-Kanals durch kolumbianische Truppen, die Unabhängigkeitskämpfe Algerischer Revolutionäre von Frankreich und die Gründung der Internationalen Atomenergiebehörde. Ich sehe zwei Möglichkeiten, an Informationen zu kommen: Wir könnten über den Hoteldirektor oder Oberleutnant Lamprin direkt Kontakt mit Moskau aufnehmen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder hat unsere Seite den Putsch niedergeschlagen und wir werden sofort zurückgerufen. Hat andererseits die Gegenseite gewonnen, dann steht uns möglicherweise die sofortige Exekution bevor. Dein Rang dürfte für den Oberleutnant eindrucksvoll genug sein, um die Funksperre zu umgehen.“ 

Aleksandra schüttelte den Kopf: „Schon das Absetzen eines außerordentlichen Funkspruchs und selbst die verschlüsselte Nachfrage nach der politischen Stabilität in der Sowjetunion würde sicher von den Briten wahrgenommen, möglicherweise auch vom Sultan, der diese Information brühwarm nach Salala und Istanbul weiterleiten würde.“

Leonid hatte auch einen Alternativvorschlag vorbereitet, zögerte aber, ihn auszusprechen. Andererseits ging es ja nicht nur um die Sicherheit ihrer kleinen Gruppe, sondern auch um die große Frage nach der zukünftigen Ausrichtung des Sozialismus. Mit einer Mischung aus gespielter Leichtigkeit und aufrichtigem Ernst schlug er daher vor: „Es gibt wahrscheinlich nur eine Möglichkeit, eine Nachricht von der Insel zu schicken, die nicht von den Briten abgehört wird.“

Aleksandra überlegte, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, worauf Leonid hinaus wollte.

„Wir müssen vom britischen Konsulat aus mit Moskau Kontakt aufnehmen. Ich kann mir vorstellen, dass unter gewissen Umständen eine Mitarbeiterin des Konsulats gewonnen werden könnte. Oder zumindest so abgelenkt würde, dass du mit Moskau telephonieren könntest.“

Aleksandra war über den Vorschlag so entrüstet wie überrascht: „Ich dachte immer, dein Talent läge in der Übersetzungstätigkeit, aber irgendwie schaffst du es, Nützliches und für dich Angenehmes so dastehen zu lassen, dass es wirklich funktionieren könnte. Aber es ist nicht viel Zeit, heute ist schon Dienstag, in drei Tagen müssen wir spätestens Gewissheit haben. In einem Fall können wir sorglos zurückkehren, im anderen müssen wir die Insel verlassen, bevor unsere Genossen Jagd auf uns machen.“ 

Leonid grinste: „Wenn ich mich ins Zeug lege, brauche ich keinen halben Tag.“

Alexandra überlegte nur kurz, bevor sie die Zustimmung erteilte: „Gut, dann wirst du versuchen, uns einen Zugang zum britischen Konsulat und einer sicheren Leitung zu verschaffen, ich werde unsere Kontakte treffen. Ich werde sie zum Essen ins Hotel einladen, damit wir in Ruhe reden können.“

Johann überlegte immer noch, was er antworten sollte, als eine schwarz gekleidete Benediktinerin mit einem Brustkreuz in Begleitung einer jungen Nonne auf ihn zukam. In seltsamem Englisch, das einen starken deutschen Akzent hatte, sprach sie Johann und Thomas an: „Ich muss Sie nun bitten zu gehen. Gemäß den Gesetzen des Landes darf die Abteikirche nur für die Zeit des Gottesdienstes geöffnet sein. Ich bitte um Ihr Verständnis.“

Lag im Blick der Äbtissin ein gewisser Ärger über die für eine Beerdigung völlig unpassende bunte Kleidung? Hielt sie Johann und Thomas für zwei verirrte Touristen? Johann war zum einen froh über die Unterbrechung, zum anderen überlegte er, ob es noch eine Möglichkeit gab, an James heranzukommen.

„Ehrwürdige Mutter, es tut uns leid, dass wir das nicht gewusst haben.“ Er stand auf und verneigte sich vor ihr. „Wir haben gehört, dass hier ein Gottesdienst stattfindet, und da wir katholisch sind, wollten wir diese einmalige Gelegenheit nützen.“

Das Gesicht der älteren Nonne hellte sich auf und sie wechselte ins Deutsche: „Ein Landsmann aus Österreich? Kann das sein?“ 

Johann zuckte kurz zusammen: „Ja, mein Name ist Johann Erath, ich stamme aus Niederösterreich.“ 

Für einen Augenblick verlor die ältere Nonne ihre würdige Haltung und drückte Johann die Hand zur Begrüßung. „Ich bin Äbtissin Maria Barbara, das ist Schwester Maria Julia. Ich stamme aus Kärnten, Schwester Maria Julia ist ebenfalls Niederösterreicherin. Sr. Maria Julia, begrüße unseren Gast!“ 

Schwester Maria Julia, die bis jetzt aufmerksam zuhörend im Hintergrund gestanden war, reichte ebenfalls mit einem Lächeln Johann die Hand. Johann stellte den beiden Thomas als seinen Reisebegleiter vor, und auch dieser wurde herzlich begrüßt. „Schwester Maria Julia wird die Kirchenpforte verschließen; aber es wäre mir eine so große Freude, Sie noch auf einen Kaffee und etwas Kuchen in unser Gästezimmer einladen zu dürfen. Es kommt so selten vor, dass Freunde aus Österreich sich hierher verirren.“

Johann sah seine Chance gekommen, und während Thomas noch unschlüssig dastand, trat Johann auf den Mittelgang der Kirche vor die Äbtissin. „Die Ehre ist fast zu groß und wir sind nicht angemessen gekleidet, aber es wäre faszinierend, von Ihnen etwas über die Lage der Katholiken hier in Sansibar zu erfahren. Und über Ihr Kloster, und warum Sie als Österreicherinnen hierhergekommen sind. Und vielleicht“, Johann nützte die gewachsene Freude der Äbtissin, „Ist es auch möglich, kurz mit Ihrem Kaplan zu sprechen, der gerade das Requiem zelebriert hat?“

Schlagartig verdunkelte sich das Gesicht der Äbtissin. Schwester Maria Julia war inzwischen wieder zur Gruppe gekommen, nachdem sie hinten das Tor versperrt hatte. Die Äbtissin sagte: „Ja, Sie können auch P. Booker sprechen. Er ist allerdings nicht unser Kaplan. Er ist wegen des Begräbnisses seiner Tante extra nach Sansibar gekommen. Er wohnt zwar im britischen Konsulat, aber er wird noch einmal zur Sakristei kommen, um sich hier umzuziehen. Ich werde inzwischen den Kaffee vorbereiten. Schwester Maria Julia wird hier mit Ihnen warten.“

Leicht missmutig ging die Äbtissin durch eine Seitentüre aus der Kirche. Johann wandte sich an Schwester Maria Julia: „Habe ich durch meine Bitte die Mutter Äbtissin verärgert?“

Schwester Maria Julia lud mit einer Handbewegung ein, Richtung Sakristei zu gehen und antwortete: „Nein, es ist nur der große Aufwand, der für das Begräbnis getrieben wurde, ist für unser Kloster eine Belastung: Sie werden sicher bald mitbekommen, dass Sansibar mehrheitlich von Muslimen bewohnt ist, die Christen in ihrem Land seit Jahrhunderten immer nur als Eroberer und Unterdrücker wahrgenommen haben. Es sind nicht so sehr die deutlichen religiösen Unterschiede, die das Zusammenleben erschweren, sondern das soziale Gefälle. Dieses Begräbnis, das die halbe Stadt blockiert, trägt nicht gerade dazu bei, unsere Situation hier zu verbessern.“

Johann begann, die Situation zu verstehen, fragte aber trotzdem nach: „Wie kommt es, dass der britische Konsul ein Katholik ist?“

Schwester Maria Julia antwortete: „Das ist er nicht, er ist wie alle höheren britischen Beamten Angehöriger der englischen Staatskirche. Nur seine Frau war Katholikin. Sie hatten dank seiner diplomatischen Beziehungen eine Dispens für diese Eheschließung bekommen. Es war das erste Mal, dass er diese Kirche betreten hat. Seine verstorbene Frau hingegen war jeden Sonntag bei uns.“ Während Thomas begann, die verschiedenen Gemälde und Statuen der Kirche mit halbem Interesse zu betrachten, fragte Johann weiter: „Wie kommt es, dass Sie deutsch sprechen bzw. aus Österreich hierhergekommen sind?“

„Nach der Eroberung Sansibars durch die Araber wurden die portugiesischen Klöster zunächst bestehen gelassen, kamen aber mehr und mehr ab. Dieses Kloster hatte das Glück, dass 1743, als nur noch 5 Nonnen hier waren, eine Habsburgererzherzogin mit acht Freundinnen Spanien verließ, um hier das einfache klösterliche Leben zu beginnen. Sie wurde natürlich bei der nächsten Wahl als Äbtissin Maria Emmanuela Leiterin des Klosters. Seit dieser Zeit gibt es regelmäßig auch Nonnen aus Österreich hier. Bis zum Ersten Weltkrieg war es auch noch leichter, deutschsprachige Schwestern aus dem benachbarten Tanganika-Land zu bekommen; jetzt ist die Lage wesentlich schwieriger. Es gibt nämlich neben der etablierten Herrschaft des Sultans, der uns einfach duldet, und der indirekten Unterstützung durch den britischen Konsul in letzter Zeit auch vermehrt kommunistische Umtriebe auf der Insel. Die Mutter Äbtissin befürchtet, dass der Ärger um das Begräbnis Wasser auf die Mühlen der Katholikenfeinde kommunistischer und muslimischer Art sein könnte. Würden sich diese beiden Gruppen irgendwann vereinigen, würde es nicht nur um die britische Vormacht, sondern auch um den Fortbestand unseres Klosters schlecht aussehen.“

Bei diesen Ausführungen war auch Thomas hellhörig geworden. Hatte er zuerst diese zwei Frauen, die trotz der Hitze in bodenlangen schwarzen Gewändern und einem das Gesicht ganz einhüllenden Schleier verborgen waren, für weltfremd und abgehoben gehalten, so änderte sich jetzt sein Bild. Er richtete das Wort an Schwester Maria Julia: „Sie wissen ziemlich gut Bescheid über die Verhältnisse hier im Land. Kommen Sie ein bisschen herum? Bekommen Sie Ihre Informationen bei Ausflügen in die Stadt?“

Ein Lächeln huschte über Schwester Maria Julias Gesicht: „Natürlich nicht! Wir Nonnen verlassen nie das Gelände des Klosters. Aber viele kommen in unser Hospital. Wir betreuen hier Kranke aus allen Gruppen, egal ob sie schwarz oder weiß sind, Araber oder Afrikaner, Briten oder Deutsche. Wir fragen auch nicht nach der Religionszugehörigkeit, denn in den Geringsten ist uns immer Jesus Christus gegenwärtig.“

Thomas erinnerte sich daran zurück, dass der Hoteldirektor mit großer Überzeugung davon gesprochen hatte, dass hier nur Katholiken behandelt würden. War er schlecht informiert? Oder war es eine bewusste Fehlinformation, die gut geeignet war, die religiösen Frauen schlecht zu machen?

Ein Geräusch aus der Sakristei unterbrach das Gespräch. „P. Booker ist zurückgekehrt. Bitte warten Sie hier, ich werde ihn herbringen.“

Kaum war Schwester Maria Julia gegangen, wandte sich Thomas an Johann: „Ich verstehe ja, dass wir uns mit den österreichischen Nonnen unterhalten; aber wozu sollen wir mit einem britischen Priester reden?“

Johann antwortete: „James ist ein Studienkollege von mir aus Rom! Vielleicht ist das eine einmalige Chance, mit seiner Hilfe über den Konsul Aleksandra, Leonid und uns beide aus diesem Land zu bringen, ohne dass irgendwem etwas passiert.“

Johann freute sich geradezu kindisch darüber, dass er zum ersten Mal seit dieses Abenteuer in der Sowjetunion begonnen hatte, auch eine kluge Idee beisteuern konnte. Ja, vielleicht machte diese Insel mit ihrem Klima, ihrem Essen, ihrer Musik und ihren Farben wirklich langsam jemanden aus ihm, der über den Stubengelehrten hinauswuchs.

Doch Thomas unterbrach Johanns Selbstzufriedenheit: „Das ist ja eine hervorragende Idee: Wir sagen einfach dem britischen Konsul in Sansibar, dass wir mit einem sowjetischen Generalmajor auf dem geheimen Flughafen der Kommunisten gelandet sind und bitten ihn um ein paar neue Pässe, um nach Österreich zu fliegen!“

Johann nickte: „Ja, genauso habe ich mir das vorgestellt!“

Thomas runzelte die Stirn. Johann war in so vielen Dinge unheimlich belesen und gebildet, aber manchmal mangelte es ihm am einfachsten Hausverstand: „Aleksandra wird niemals zustimmen, dass ihre Identität preisgegeben wird. Leonid und sie würden alles verlieren, wenn sie in dieser heiklen Phase mit uns in den Westen abhauen. Und ich kenne Aleksandra nicht, aber Leonid ist trotz allem ein hundertprozentiger Kommunist, der seiner Partei mit so viel Inbrunst nachläuft wie seinen Abenteuern. Freiwillig würde der nie desertieren oder fliehen.“

Johann wurde durch diese einfache Erklärung zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Es stimmte, er hatte nicht daran gedacht, wie Aleksandra und Leonid dann in Österreich weiter machen sollten. Egal, wer in der Sowjetunion an die Macht kam, es musste für alle so aussehen, als hätten die beiden die Gelegenheit genutzt, ihrem System zu entkommen. „Aber vielleicht können wir über das Konsulat irgendjemanden davon informieren, dass wir hier sind? Oder um Unterstützung ansuchen? Wir müssen ja nichts von Aleksandra und Leonid sagen. Die beiden können ja dann selbst entscheiden, ob sie mitkommen wollen. Und wenn die richtige Seite den Putsch gewinnt, können wir ja wieder ganz einfach nach Moskau zurückkehren.“, versuchte Johann noch einige Bruchstücke seines genialen Plans zu retten.

Thomas blieb nicht mehr die Zeit, zu antworten, weil ein Mann in schwarzem Talar aber mit ungewöhnlich langen Haaren zuerst langsam auf sie zukam, dann schaute und schließlich Johann herzlich umarmte: „John, John? Wie kommst du denn nach Sansibar?“, erst jetzt bemerkte er auch Thomas und grüßte ihn: „Hallo, ich bin James Booker. John und ich haben in Rom gemeinsam studiert.“ Und ohne Johann auszulassen, streckte er Thomas seine Hand zum Gruß hin. Sofort sprach er weiter zu Johann: „Du warst von einem Tag auf den anderen weg. Wo bist du gewesen?“

Schwester Maria Julia räusperte sich. James verstand den Hinweis: „Sie möchte nicht, dass wir in der Kirche weitersprechen.“ James zog Johann förmlich in die Sakristei, nicht ohne dass beide beim Verlassen der Kirche eine Kniebeuge vor dem Altar gemacht hätten. Auch Thomas und Schwester Maria Julia folgten den beiden.

Während Johann noch überlegte, wie er dieses Zusammentreffen so nutzen konnte, dass er zugleich Thomas und sich in Sicherheit bringen könnte, ohne Aleksandra und Leonid zu gefährden, sprudelte James in der Sakristei schon los: „Wie lange bist du noch hier? Ich muss leider gleich zum Empfang im Konsulat, den mein Onkel anlässlich der Beerdigung gibt. Aber wir könnten uns doch morgen dort treffen. Ich werde dich dem Konsul vorstellen, und dann essen wir gemeinsam zu Mittag. Natürlich ist auch dein Begleiter herzlich eingeladen.“

Thomas nickte Johann zu, der die Einladung gerne annahm: „Wann sollen wir dort sein?“ 

James überlegte kurz: „Kommt um zwölf. Das Essen wird immer erst um eins serviert, da haben wir noch eine ganze Stunde Zeit, das Haus zu besichtigen und meinen Onkel zu sprechen.“ Schon wollte er sich mit einer weiteren Umarmung verabschieden, als er Johann von oben bis unten anschaute: „Sag mal, John, was hast du denn da an? Der Streber, der selbst im Sommer nie ohne Anzug und geschlossenem Hemd im Garten in der Sonne saß, nun im Freizeitlook? Du kennst mich, ich bin da grundsätzlich viel lockerer, aber in Anbetracht auch des Todesfalles, würde ich bitten, dass Ihr morgen etwas dezenter gekleidet kommt.“ 

Nach der Verabschiedung führte Schwester Maria Julia Johann und Thomas zum vorbereiteten Kaffee in das mit schon etwas abgenützten Barockmöbeln ausgestattete Besuchszimmer. Auf dem Weg sagte Thomas zu Johann: „Der Besuch morgen ergibt sich gut. Vielleicht kann man von der Botschaft aus telephonieren. Dann könnten wir nachfragen, wie es zuhause so geht.“

Schwester Maria Julia schüttelte den Kopf: „Die Insel ist nicht mit einem Telephonkabel an das Festland angeschlossen. Noch nicht, die Arbeiten haben dieses Jahr begonnen, werden aber nicht vor zwei Jahren fertig sein. Mit unseren Apparaten kann man nur innerhalb der Insel telephonieren. Es gibt aber auch keine öffentliche Telegraphenstation. Nur im Palast sowie im britischen und osmanischen Konsulat gibt es Telegraphenstationen, die während der Öffnungszeiten von 10-12 Uhr und 14-15 Uhr nach Maßgabe des Botschaftspersonals benützt werden können. Das sind die einzigen Wege, um Nachrichten von der Insel zu bekommen, wenn es schneller als mit der Post gehen muss.“ Außer, man benutzt die sowjetische Station im Norden, dachte Thomas. 

Während die beiden Schwestern schließlich eine ganze Flut von Fragen über das Leben in Österreich stellten und daneben Interessantes über die gesellschaftliche Situation auf der Insel erzählten, überlegte Thomas, wie man den Aufenthalt im Konsulat dazu nützen könnte, eine Botschaft nach Österreich zu schicken. Wenn die Uhrzeiten stimmten, die Mutter Maria Barbara genannt hatte, dann wäre auch für das Personal der Telegraphenstation gerade Mittagspause, wenn er und Johann in der Botschaft sein würden. Es müsste möglich sein, sich Zutritt zur Station zu verschaffen und ein Telegramm nach Wien zu senden. Doch an wen? Nicht an eine militärische Dienststelle, denn sicher überwachten mindestens der Geheimdienst des Sultans und der türkische, wenn nicht auch der sowjetische Geheimdienst die ausgehenden Telegramme. 

Der Hoteldirektor hatte fünf Mitglieder der geheimen kommunistischen Partei eingeladen. Nun schauten die Männer mit großen Augen auf Aleksandra. Die Männer saßen auf tiefen Korbsesseln, während der Direktor neben Aleksandra stand. Er hatte ihr den hohen Sessel hinter seinem massiven Schreibtisch angeboten. Die Vorhänge waren geschlossen, und aus einer Lade holte er einen kleinen Fahnenständer mit der sowjetischen Flagge heraus, den er vor Aleksandra aufstellte.

Sie pokerte hoch. Natürlich wusste sie in Grundzügen über die Unterstützungsmission auf Sansibar Bescheid, aber Afrika und der Vordere Orient gehörten nicht zu ihrem Spezialgebiet. Während des Fluges hatte sie sich unverfänglich mit dem Piloten unterhalten, der ihr etwas über Häufigkeit und Art der Versorgungsflüge erzählt hatte. Die Sitzordnung war aber perfekt gewählt, so konnte sie trotz ihrer skurrilen Urlaubskleidung als Autoritätsperson auftreten. Sie wandte sich zuerst an den Hoteldirektor: „Verstehen die Genossen Russisch, oder muss ich Englisch reden?“ Sie legte bewusst Schärfe in die Frage, um jede Infragestellung ihrer Autorität auszuschließen. 

Der Hoteldirektor blickte in die Runde und wischte sich dann mit einem weißen Stofftaschentuch die Stirn ab. Schließlich antwortete er: „Leider war es uns noch nicht möglich, die wunderbare Sprache des großen Brudervolkes ausreichend zu erlernen. Ich bitte um Arabisch oder Englisch.“

Aleksandra nickte und fuhr in der ihr ungewohnten Sprache fort. Sie begann mit einer Einleitung über die zentrale Bedeutung der Solidarität der Arbeiterschaft über jede Sprach-, Hautfarben- und Kontinentgrenze hinweg, setzte mit Ausführungen über die bisherige Unterstützung fort und stellte dann die Frage an die Runde, was denn nun die konkreten Pläne bzw. die Wünsche an die Sowjetunion seien.

Die Männer, die zuerst skeptisch auf die Frau in der tief ausgeschnittenen roten Bluse und dem dunkelgrünen Seidenwickelrock geschaut hatten, waren über ihre präzisen Ausführungen und die Zielstrebigkeit ihrer Fragen überrascht.

Der Hoteldirektor begann, und je mehr sich das Gespräch entwickelte, desto mehr musste Aleksandra sich zusammenreißen, einfach nur Notizen zu machen, und nicht einfach loszuschreien: Diese sogenannten ‚Revolutionäre‘ waren mit Masse wirtschaftlich benachteiligte Unternehmer, die unter der arabischen Oberschicht oder den britischen Handelshäusern litten. Ihre Erwartung an die Sowjetunion war eine Vertreibung der Briten und die Kontrolle über den Sultan, gewürzt mit afrikanischem Patriotismus und der so naiven wie brutalen Vorstellung, dass der einmalige Kraftakt der Vertreibung oder Ermordung aller Kollaborateure das britische informelle Herrschaftssystem mit einem Schlag vernichten würde. Der Hoteldirektor, der Aleksandras Skepsis bemerkte, setzte hinzu: „Man könnte natürlich auch, wenn dafür geeignete Personen zur Verfügung gestellt würden, einfach nur die maßgeblichen Vertreter der Briten und ihrer Verbündeten gezielt ausschalten.“ Seiner Meinung nach würde sich die Masse der Bevölkerung dann sofort auf die Seite der Revolutionäre stellen. Der Sultan wäre gezwungen, den Briten das Aufenthaltsrecht zu entziehen und sie des Landes zu verweisen.

Aleksandra überlegte kurz, ob sie dieses Gespräch, dass sie ja eigentlich nur führte, um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, nützen sollte, eine Struktur und vor allem einige Regeln in diesen Revolutionsprozess einzubringen. Sie sprach für diese Menschen hier mit der Stimme schier unbegrenzter Macht, wahrscheinlich würden diese Männer jeden ihrer Vorschläge als Befehl auffassen und mit ihren Möglichkeiten umsetzen. War es fair, den guten Glauben dieser Menschen auszunutzen? Sie würde diese Insel am Freitag so oder so verlassen und wahrscheinlich nie wieder hierher zurückkehren, warum also einmischen? Andererseits gab es für jeden Sozialisten die Pflicht, jedem Genossen nach bestem Wissen beizustehen und den Sieg des Sozialismus nicht nur im eigenen Land zu fördern, sondern an jedem Ort, wo sich eine Möglichkeit auftat.

Aleksandra entschied sich, ein weiteres Treffen für den nächsten Abend zu vereinbaren. Bis dahin würde sie die Vorschläge gesichtet und konkrete Antworten vorbereitet haben. So konnte sie zumindest Zeit gewinnen. Möglicherweise gab es bis dahin auch schon Nachrichten aus der Heimat.

Leonid pfiff vergnügt die Melodie des Klassikers Katjuscha, als er am späten Abend zurück zum Hotel schlenderte. Die britische Sekretärin hatte nicht einmal einen Bruchteil seiner Verführungsressourcen benötigt, bis sie ihm schon vertrauensselig die Stadt gezeigt hatte. Gut, das Glück war auf seiner Seite, denn beim Verlassen des Konsulates hatte er ihr gegenüber den hilfesuchenden Touristen gemimt. Sobald Leonid herausgefunden hatte, dass das Mädchen in der Telegraphenstation arbeitete, begann er, sie um den Finger zu wickeln. Mit der einfachen wie wirksamen Methode, Frauen einfach eine Möglichkeit zu geben, sich auszureden, hatte sie ihn nicht nur ein wenig in der Altstadt herumgeführt, nach dem anschließenden Kaffee, zu dem er sie eingeladen hatte, war es unweigerlich dazu gekommen, dass sie ihn in ihre Wohnung mitgenommen hatte. Alles Weitere war angenehme, wenn auch nicht besonders bemerkenswerte Routine gewesen. Sie hatte ihm von der Schwierigkeit mit den Männern des britischen diplomatischen Dienstes erzählt. Und afrikanische oder arabische Männer würden für sie als Britin ja nicht in Frage kommen. Es war immer dasselbe mit dieser Art von Frauen. 

Der Besuch endete mit der charmanten Ankündigung, dass Leonid sie am nächsten Tag zum Mittagessen ausführen wollte. Somit war klar, dass er um zwölf Uhr beim Konsulat zu sein hatte. Da sie dann mit ihm unterwegs wäre, könnte Aleksandra mit etwas Geschick die Telegraphenstation in Ruhe benützen. Es wäre sicher klug, dem Mittagessen ein weiteres Schäferstündchen anzuschließen, damit man wirklich erst knapp vor vierzehn Uhr zurück zum Konsulat käme. Das war für Leonid kein Problem, denn wenn er seinen Körper für einen Auftrag einsetzte, galt natürlich die Einmaligkeitsregel nicht.

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